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»Der Baum hat seine Unschuld verloren«, sagte plötzlich eine Stimme jenseits der Eiche. »Das feine Gespinst der Wirklichkeit in seinem Inneren ist zerrissen. Der Augenblick der Zweiten Geburt wird für immerdar in ihm gefangen sein.«

Hagen schrak zurück, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Seine Ferse trat auf den Rand der Klippe, rutschte ab. Er schrie auf, ein Kreischen in höchster Panik, als sich der Fluß unter ihm auftat wie ein Maul. Die Oberfläche war grau und trübe, trotz des blauen Himmels.

Finger schossen vor, umfaßten sein Handgelenk. Zwei, drei Atemzüge lang schwebte Hagen über dem Abgrund, stumm, erstarrt, unter sich nichts als die Tiefe.

Jemand riß ihn zurück auf festen Grund. Das Maul des Flusses schloß sich wieder.

»Eine Dritte Geburt kann es nicht geben«, sagte Bärbart.

Kapitel 3

»Wieso hörst du auf?« Nimmermehrs Stimme klang atemlos. Zum ersten Mal seit langem bewegte sie sich wieder. Während Hagen geredet hatte (und geredet und geredet), war sie stumm geblieben, hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen.

Er erforschte die Leere hinter seinen Augenlidern. »Ist es schon abend?«

»Schon lange. Es ist stockdunkel.«

Unwirsch tastete er nach den Zügeln in ihren Händen, zog heftig daran. »Dann laß uns rasten. Es ist gefährlich, im Dunkeln zu reiten. Zumal so nahe bei einem Schlachtfeld - wer weiß, wer sich in dieser Gegend herumtreibt.«

»Leichenfledderer? Plünderer?«

»Vielleicht, ja.«

Nimmermehr sprang von Paladins Rücken und seufzte, als wollte sie damit klarstellen, daß sie keineswegs einverstanden war. »Wenn du meinst«, sagte sie gedehnt.

»Ich soll doch dafür sorgen, daß dir nichts zustößt, oder?« Er spürte, daß er schärfer klang als nötig, aber er konnte nichts dagegen tun. Er mochte sonst nichts über Nimmermehr wissen, doch eines hatte er längst erkannt: Sie konnte ungemein anstrengend sein.

Das Mädchen gab keine Antwort. Geräusche verrieten, daß sie Decken auf dem Boden ausrollte. Mochten die Götter wissen, woher sie sie genommen hatte; sie mußten am Sattel gehangen haben, ohne daß Hagen sie bemerkt hatte. Kleinigkeiten wie diese verunsicherten ihn mehr als alles andere.

Zögernd ließ er sich vom Rücken des schnaubenden Pferdes zu Boden gleiten. Auch als er schon Fels unter den Füßen spürte, hielt er sich weiter am Sattelknauf fest.

»Beschreib mir, wo wir sind«, verlangte er und setzte mit einer Hand den Helm ab.

»Es ist dunkel«, sagte sie trotzig. »Ich kann nichts sehen.«

»In freiem Gelände ist es niemals so dunkel, daß man nichts sieht.« In seiner Lage war das eine so absurde Aussage, daß er scharf die kühle Nachtluft einsog, ehe er weitersprechen konnte: »Wie hat es ausgesehen, bevor es dunkel wurde?«

»Wir sind immer noch oben in den Bergen«, sagte sie und griff nach seiner Hand. Ihre Finger waren warm und führten ihn zu den Decken. »Ich glaube, ein Stück weiter vor uns führt das Gelände wieder abwärts. Wir sind die meiste Zeit durch eine Senke geritten, wahrscheinlich ein altes Flußbett mit hohem Gras rechts und links. Oben an der Böschung standen noch mehr von diesen Dornenbüschen.«

»Das hättest du mir sagen müssen«, fuhr er sie aufgebracht an. »Wir hätten direkt in einen Hinterhalt reiten können.«

»Morten von Gotenburg hat es nicht nötig, mir irgendwo aufzulauern. Außerdem müßte er immer noch hinter uns sein. Er hat es nicht sonderlich eilig damit, mich einzufangen.«

»Sind wir immer noch in diesem Flußbett?« fragte Hagen.

»Ja, es ist breiter geworden.«

»Hast du in der Nähe einen Weg gesehen oder eine Straße?«

»Nirgends.«

Hagen holte tief Luft und stellte sich vor, wie sie vor ihm im Dunkeln saß, das hübsche Gesicht zu einem altklugen Naserümpfen verzogen.

Wie kommst du darauf, daß sie hübsch ist?

Er versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. »Wir müssen wohl davon ausgehen, daß dieser Morten denselben Weg nimmt.«

»Das müssen wir wohl.«

»Das scheint dich nicht sehr zu bekümmern«, stellte er fest.

»Kannst du das beurteilen?« gab sie beleidigt zurück. »Ich bin seit einer Ewigkeit auf der Flucht vor ihm. Irgendwann lernt man, mit der ständigen Gefahr zu leben. Man beginnt, sie als Teil seiner selbst zu akzeptieren.«

Sie war noch so jung, dachte er bekümmert, und war schon zum selben Schluß gekommen wie er selbst. Es war nicht richtig, daß sie aus Erfahrung über solche Dinge sprechen konnte. Er hatte sich sein Leid selbst aufgebürdet, er allein trug die Schuld daran. Aber sie? Wieder wurde ihm bewußt, daß er nichts über sie wußte.

»Woher kennst du diesen Mann?« Er nahm seinen Waffengurt ab und streckte sich auf der Decke aus. Der Boden darunter war uneben und mit scharfkantigen Steinen übersät.

»Du bist mit deiner Geschichte noch nicht am Ende«, erwiderte sie. »Erst erzählst du, dann ich, das war unsere Abmachung.«

»Wie soll ich dich vor jemandem beschützen, über den ich nicht das geringste weiß?« Er war viel zu müde, um sich auf einen Streit mit ihr einzulassen. Das viele Reden war er nicht gewohnt. Sie hatte schon mehr aus ihm herausgelockt als jeder andere Mensch, den er getroffen hatte.

Und wer weiß, dachte er, vielleicht gibt es diesen Morten ja gar nicht. Seltsamerweise beunruhigte ihn dieser Gedanke nicht im mindesten; mit seiner Blindheit ging eine gefährliche Gleichgültigkeit einher.

»Erzählst du nun weiter?« fragte sie.

»Ich bin müde.«

»Ich kann nicht einschlafen, wenn ich nicht weiß, wie es weitergeht«, sagte sie beharrlich. Ihre Stimme war jetzt direkt neben ihm. Als er sich bewegte, stieß er mit dem Knie gegen ihr Bein. Ja, da lag sie, ganz nahe bei ihm.

»Ich kann kein weiteres Wort mehr sagen, wenn ich nicht vorher schlafe«, gab er zurück.

»Es hat dich schlimmer erwischt, als du zugeben willst.«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte er mürrisch.

»Ich hab dich für ausdauernder gehalten.«

Empört fuhr er auf. »Ich bin ausdauernd.«

»Ja, im Jammern.«

»Hör zu, Nimmermehr, oder wie auch immer du in Wirklichkeit heißen magst -«

»Aber ich heiße so«, unterbrach sie ihn und klang nun gleichfalls gekränkt.

»Gut. Nimmermehr. Von mir aus. Ich bin hundemüde, und ich habe, verdammt nochmal, allen Grund dazu. Ich habe drei Tage lang in einer Schlacht gekämpft, im Dienste von Männern, die der Ansicht waren, alles, was ein Krieger braucht, wird aus Eisen geschmiedet. Verstehst du, ich habe Hunger! Ich habe Wunden am ganzen Körper -«

»Die ich versorgt habe.«

»Ich habe Wunden am ganzen Körper«, wiederholte er betont, ohne sich beirren zu lassen, »und mein Schädel tut weh, weil ich einen Tag lang einen Helm tragen und darunter reden mußte. Und, glaube mir, das ist sonst überhaupt nicht meine Art.«

Sie wollte ihn erneut unterbrechen, doch er brachte sie schon nach der ersten Silbe zum Schweigen, indem er mit erhobener Stimme fortfuhr: »Als ob das alles noch nicht genug wäre, muß ich Kindermädchen spielen für jemanden, den ich nicht kenne und der keinerlei Anstalten macht, daran etwas zu ändern. Ich weiß nicht, wer du bist, Nimmermehr, und ich weiß nicht, warum man dich angeblich verfolgt. Und soll ich dir noch etwas sagen: Im Augen blick mag ich auch gar nichts darüber hören. Alles, was ich will, ist eine Weile Ruhe und ein wenig Schlaf, damit ich mich morgen wieder auf dieses Pferd setzen, deine Anwesenheit ertragen und mir den Mund in Fransen reden kann.« Er schnappte nach Luft wie ein Schwimmer in Bedrängnis. »War das deutlich genug?«

Nimmermehr gab keine Antwort. Er horchte auf ihren leisen, weichen Atem in der Nacht, und plötzlich hatte er das verrückte Bedürfnis, sie zu berühren, einfach um zu wissen, daß sie wirklich noch da war. Im Moment war sie das einzige, das ihn am Leben hielt. Ohne sie war er verloren.