Выбрать главу

Er wartete, erst gelassen, dann immer ungeduldiger, daß sie endlich wieder mit ihm sprechen würde, und wenn es nur eine weitere kindische Bemerkung oder eine neue Besserwisserei war. Seine Müdigkeit war immer noch da, aber er konnte nicht einschlafen, ohne daß sie irgend etwas erwiderte; dafür haßte er sich beinahe selbst.

Sie aber sagte nichts. Schwieg nur und schmollte wahrscheinlich stur vor sich hin.

Irgendwann, er hatte das Gefühl, die halbe Nacht sei vergangen, fragte er: »Schläfst du?«

Ein Augenblick verging. »Nein«, sagte sie dann. Nichts sonst, nur das eine Wort. Das paßte gar nicht zu ihr.

»Ich habe das eben nicht so gemeint.« Liebe Güte, was war nur aus ihm geworden!

»Was meinst du?« fragte sie verständnislos.

Vielleicht hatte sie ihn ja schon um den Verstand gebracht, ohne daß er selbst es bemerkt hatte. »Vergiß es«, sagte er deshalb mit halbherzigem Grimm.

»Tut mir leid, ich habe nicht zugehört.«

Einen Moment lang war er sprachlos. Dann, ganz allmählich, fand er wieder zu sich selbst. Er durchschaute ihre List. Nicht zugehört? Natürlich nicht, dachte er hämisch. Was sie nicht hören wollte, das hörte sie nicht!

Nimmermehr flüsterte: »Ich habe hinaus in die Nacht gelauscht. Er kommt näher.«

»Wer?« fragte Hagen und setzte sich ruckartig auf. »Dein Magier?«

»Morten, ja. Spürst du ihn nicht?«

Widerwillig horchte er ins Dunkel. Eine Grille zirpte nahe an seinem rechten Ohr. Und vom Himmel ertönte das Kreischen ferner Raben.

Raben? Mitten in der Nacht?

Zum ersten Mal seit Stunden überkamen ihn wieder Zweifel. Sagte sie die Wahrheit? War es wirklich so dunkel, wie sie behauptete? Wer sagte ihm denn, daß es nicht heller Nachmittag war? In seiner Verfassung hätte er zu jeder Tageszeit müde sein können, das war kein Anhaltspunkt. Und seine Blindheit machte die Unterscheidung unmöglich.

Die Erkenntnis war wie ein Schlag ins Gesicht: Er war nicht nur auf Nimmermehr angewiesen, er war ihr mit Haut und Haaren ausgeliefert! Er mußte ihr vertrauen, weil er gar keine andere Wahl hatte!

Unwillkürlich gab er sich alle Mühe, ihr zu glauben. Es war Nacht.

»Sind es vielleicht die Raben, die du hörst?« fragte er gefaßt.

»Nein. Die sind immer da. Ich meine ihn. Seine Gedanken.«

»Du hörst Mortens Gedanken?«

»Ich kann den Haß darin spüren. Er wird bald hier sein.« Leiser fügte sie hinzu: »Er wird mir weh tun.«

Ein böser Traum, dachte er. Sie hatte geschlafen, ohne daß er es bemerkt hatte, und nun konnte sie nicht mehr zwischen Nachtmahr und Wirklichkeit unterscheiden.

»Niemand wird dir weh tun.« Er versuchte sanft zu klingen, aber darin war er nie besonders gut gewesen. »Ich passe auf dich auf.« Selbst in ihrem Zustand mußte sie durchschauen, wer hier in Wahrheit auf wen achtgab. Aber es war das beste, das ihm in den Sinn kam. Nicht viel, gestand er sich ein.

Die Furcht in ihrer Stimme war jetzt noch deutlicher. »Er wird kommen, und er wird dich töten, und mich wird er auch töten, aber nicht gleich. Und vorher wird er mir Schmerzen zufügen, schlimme Schmerzen, aber du bist ja dann tot und wirst nichts mehr davon mitbekommen.«

Er lächelte; vielleicht war es wirklich an der Zeit, einen Arm um sie zu legen.

Aber er tat es nicht. »Ich mag zwar blind sein, aber so schnell bringt man mich nicht um.« Insgeheim wußte er genau, was für einen Unsinn er da redete.

»Morten schon.«

Hagen unterdrückte einen Seufzer. »Was schlägst du denn vor? Sollen wir weiterreiten?« Mitten in der Nacht, wollte er hinzufügen, ließ es dann aber bleiben.

Sie klang immer noch, als spreche sie im Halbschlaf. Ängstlich zwar, aber zugleich seltsam fern und gedankenverloren. »Ich kann ihm nicht entkommen. Er ist das Buch ohne Seiten. Er weiß alles, sieht alles, sogar, daß du bei mir bist.«

»Buch ohne Seiten?« fragte er verwundert. »Was soll das sein? Ein Gleichnis?«

»Morten von Gotenburg ist Das-Buch-das-lebt.«

»Das was?« So albern es auch war: In ihm regte sich plötzlich Besorgnis, eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte.

»Es ist... nicht einfach«, sagte sie stockend.

Sein Tonfall wurde um eine Spur schärfer. »Vielleicht sollten wir unsere närrische Abmachung einen Moment lang vergessen. Wer ist dieser Morten von Gotenburg? Und was hat es mit diesem Buch auf sich?«

»Du hast noch nie davon gehört?«

»Mir ist nicht nach Rätselraten zumute.« Nimmermehr wandte sich zu ihm um. Hagen spürte ihren Atem auf seiner Wange; er fühlte sich kühl an.

»Man erzählt sich, Morten habe einen Pakt mit dem Bösen geschlossen.«

»Das erzählt man sich von vielen.« Er wünschte sich, sie würde die Gerüchte überspringen und endlich zur Sache kommen.

Nimmermehr schien seinen Einwurf überhört zu haben. »Seither trägt er einen langen, weiten Mantel, der seinen ganzen Körper verhüllt. Aber darunter ist er nicht allein! Manche sagen, sie kennen wiederum andere, die Mortens Leib gesehen haben - und das, was darauf lebt.« Sie verstummte für einen Augenblick, als erfülle sie allein die Vorstellung mit Abscheu. »Seine Glieder sind übersät mit winzigen Teufeln, jeder nicht größer als ein Finger. Es sind Dutzende. Sie klettern auf ihm herum wie Ameisen, tagein, tagaus. Mit ihren Krallen ritzen sie Runen und Zeichen in sein Fleisch, bedecken ihn damit von oben bis unten. Es sind Zaubersprüche, sagen die Leute! Immer wieder finden diese Kreaturen verborgene Stellen an seinem Körper, die noch unbeschriftet sind, und überall hinterlassen sie ihre Spuren. Deshalb nennt man ihn Das-Buch-das-lebt. Er ist ein lebendiges Zauberbuch! Die Teufel schreiben und schreiben und schreiben auf ihm... Die Schmerzen haben ihn längst in den Irrsinn getrieben. Er hat Wahnvorstellungen, sieht überall Feinde und Gespenster, obgleich er selbst die Essenz des Bösen in sich trägt.«

Nimmermehr hatte immer schneller gesprochen, hatte die Worte ausgespien, als wäre sie froh, sich ihrer endlich zu entledigen. Sie hatte die Wahrheit - oder das, was sie dafür hielt - schon viel zu lange mit sich herumgetragen.

Hagen dagegen war alles andere als erleichtert. Wenn es stimmte, was sie gesagt hatte, dann war dieser Morten eine viel größerer Gefahr, als er bisher angenommen hatte. Log sie jedoch, so hatte Hagen sich in die Obhut einer Wahnsinnigen begeben. Und er wußte nicht recht, was schlimmer war.

»Du glaubst, in diesem Herbsthaus bist du sicher vor ihm?«

»Völlig sicher.«

»Warum verfolgt er dich?«

»Er hat schon auf viele Jagd gemacht. Eines Tages hörte er, wie ich das, was ich dir eben erzählt habe, zu einem anderen sagte. Seither haßt er mich. Er hat geschworen - vor mir und vor anderen -, daß er nicht ruhen wird, bis er mich für meine Worte bestraft hat.«

»Empfindsam ist er außerdem, wie mir scheint«, bemerkte Hagen.

»Würdest du ihn kennen, würdest auch du ihn ernstnehmen.«

»Ich habe schon mit vielen Verrückten zu tun gehabt. Dein Morten von Gotenburg ist nur einer mehr. Ich habe keine Angst vor ihm.«

»Die anderen konntest du sehen, als du ihnen begegnet bist.«

Er schluckte eine wütende Erwiderung und sagte dann: »Du hast gesagt, du kannst ihn spüren. Wie weit entfernt ist er noch?«

»Nahe, sehr nahe.«

Hagen stemmte sich auf die Beine. »Dann sollten wir weiterreiten.«

»Sagtest du nicht, du bist müde.«

»Nicht müde genug, um mich im Schlaf erschlagen zu lassen.«

Wenig später saßen sie wieder auf Paladins Rücken und setzten ihren Weg fort, der anderen Seite der Berge entgegen.