Hagen horchte auf den Hufschlag des Tieres. Sie ritten immer noch über blanken Stein. »Wie lange dauert es noch bis zum Sonnenaufgang?«
»Ich weiß nicht«, gab Nimmermehr kläglich zurück. »Vielleicht können wir bis dahin den Rhein erreichen.«
Bei der Erwähnung des Flusses fuhr ihm eine schreckliche Kälte in die Glieder. »Weißt du, ob Morten auch bei Nacht reitet?«
»Die Schmerzen lassen ihn ohnehin nicht schlafen.«
»Er schläft nicht? Niemals?«
»Die Runen geben ihm alle Kraft, die er braucht.«
»Vielleicht doch kein so schlechter Handel.«
»Darüber solltest du keine Scherze machen.«
Hagen hatte den Helm am Sattel befestigt; im Dunkeln würde niemand den blinden Blick seiner Augen bemerken. Der kühle Wind, der ihm ins Gesicht schlug, vertrieb seine Müdigkeit ein wenig. Er hoffte, es würde im Sitzen ein wenig Ruhe finden; es wäre nicht das erste Mal, daß er im Sattel eines Pferdes schlief.
Doch bereits kurz darauf ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Einen Augenblick lang war er verwirrt, wußte nicht einmal, ob er tatsächlich eingeschlafen war.
»Was war das?« zischte er.
Nimmermehr mußte es ebenfalls gehört haben, denn sie wartete mit ihrer Antwort, als lausche sie aufmerksam in die Nacht. »Hufschlag«, brachte sie schließlich hervor, »von mehreren Pferden.«
»Reitet Morten in Begleitung?«
»Als ich ihn zuletzt sah, war er allein.«
»Wie lange ist das her?«
»Wochen.«
Er spürte, wie sie mit jedem Atemzug unruhiger wurde. Ihre Aufregung griff auf ihn über.
»Kannst du irgendwas erkennen?« fragte er.
Sie rutschte hinter ihm hin und her, schien sich umzuschauen: »Nichts.«
»Wir müssen hoch auf die Böschung.«
Nimmermehr gab dem Pferd eine neue Richtung. Wenig später schaukelten sie einen kurzen Hang hinauf. Oben brachte Nimmermehr den Hengst zum Stehen.
»Schnell«, forderte er, »sag mir, was du siehst!«
»Es ist zu dunkel. Der Mond steht hinter Wolken; es sind kaum Sterne am Himmel. Ich kann nur ganz schwach den Horizont sehen. Aber zwischen ihm und uns ist alles schwarz.«
Hagen fluchte leise, seine Gedanken rasten. Er schwieg eine Weile und horchte auf verräterische Laute. Erst glaubte er, der Hufschlag sei verstummt, dann aber vernahm er ihn erneut; er klang jetzt näher, war nicht einmal besonders schnell. Kein Galopp, keine übermäßige Eile.
Nimmermehr hörte es ebenfalls. »Ich glaube, sie sind hinter uns im Flußbett. Sie müssen uns längst bemerkt haben.«
Hagen traf eine Entscheidung. »Los, steig ab!«
»Aber -«
»Kein Aber. Steig ab und versteck dich irgendwo.«
»Wenn es wirklich Morten ist, wird er dich töten.« Aus ihrer Stimme sprach jetzt nackte Angst.
»Vielleicht.« Er schnaubte verächtlich. »Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall verschafft es dir einen Vorsprung. Lauf so schnell wie möglich ins Tal hinunter, zum Fluß. Dort gibt es sicher bessere Verstecke als hier oben.«
Sie wollte abermals widersprechen, doch Hagen gab ihr einen Stoß, der sie nach hinten von Paladins Rücken schob. Mit einem Keuchen fiel sie zu Boden.
»Tu das nicht, Hagen!« flehte sie.
Er tastete nach den Zügeln und wies den Hengst in eine Richtung, von der er annahm, es sei die richtige. »Viel Glück!«
Nimmermehr bekam ihn am Unterarm zu fassen.
So schnell! durchzuckte es ihn.
»Warte noch!« raunte sie ihm zu und zerrte an etwas, das hinter ihm am Sattel befestigt war. »Hier«, sagte sie schließlich, »leg das um.«
Sie preßte etwas Weiches aus Stoff an sein Bein.
»Was ist das?«
»Ein Umhang. Nimm ihn. Er wird dir Glück bringen.«
Hagen schüttelte den Mantel auseinander und warf ihn sich über die Schultern. Der Kragen war mit langen, borstigen Vogelfedern besetzt. Rabenfedern, dachte er aus einem vagen Gefühl heraus.
Ohne ein weiteres Wort trat er dem Pferd in die Flanken. Paladin setzte sich in Bewegung, sprang überhastet die Böschung hinunter. Einen Moment lang kämpfte Hagen um sein Gleichgewicht, dann fing er sich wieder. Nach einigen Schritten brachte er das Tier zum Stehen, in der Hoffnung, sich ungefähr in der Mitte des ausgetrockneten Flußbettes zu befinden. Er sandte ein stummes Stoßgebet zu den Göttern, daß er nicht in die falsche Richtung blickte, als er laut rief:
»Halt! Wer da?« Er vertraute darauf, daß die anderen noch weit genug entfernt waren, als daß sie in der Dunkelheit seine Blindheit hätten erkennen können.
Stille legte sich über die Senke, als die Verfolger ihre Pferde zügelten. Hagen nutzte den günstigen Moment, um seinen Helm aufzusetzen und - ein wenig unbeholfen - das Schwert aus der Scheide zu ziehen. Er legte es vor sich über den Sattel, um klarzumachen, daß er niemanden herausfordern wollte.
Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so erbärmlich, so vollkommen hilflos gefühlt. Er vergaß Nimmermehr, vergaß alles andere, konnte nur noch daran denken, daß in jedem Augenblick eine Schwertklinge heranzucken und ihn töten konnte. Und er würde sie nicht einmal kommen sehen.
»Wer seid Ihr?« ertönte plötzlich eine Stimme. Ziemlich weit entfernt, den Göttern sei Dank!
»Ein Ritter!« Eine Lüge. »Und Ihr?«
Die Hufe schepperten wieder über das Gestein, die Reiter kamen näher.
»Haltet ein!« Hagen gab sich Mühe, eine düstere Drohung in seinen Tonfall zu legen. Offenbar mit Erfolg, denn die anderen hielten abermals an. »Sagt mir erst, wer Ihr seid und was Ihr im Schilde führt.«
Dieselbe Stimme, die eben schon gesprochen hatte, meldete sich erneut zu Wort: »Es ist eine üble Gegend, und eine noch üblere Zeit. Ich würde gerne einen Blick auf Euch werfen, bevor ich Euch Vertrauen schenke.«
»Erst Eure Namen und Eure Bestimmung!« verlangte Hagen beharrlich.
Schweigen, dann: »Also gut.« Der Mann klang keineswegs überzeugt. Es war nicht zu überhören, daß er Angst hatte. Hagen entspannte sich ein wenig.
»Meine Leute bleiben zurück, und ich komme näher. Wir werden reden, nur wir beide. Seid Ihr einverstanden?«
»Und Euer Name?«
»Runold, auf dem Weg nach Zunderwald.«
Hagen wußte, daß er nun keine andere Wahl mehr hatte, als den Mann herankommen zu lassen. Er wandte den Kopf so gut es ging der Stimme entgegen. »Kommt«, rief er dann und fügte hinzu: »Langsam.«
Ein einzelnes Pferd trottete heran, blieb kurz vor ihm stehen. Raben krächzten ganz in der Nähe. Etwas flatterte. Er war nicht sicher, ob es die Federn seines Kragens oder nahe Vogelschwingen waren.
Runold blieb lange Zeit still. Offenbar bemühte er sich, Hagen in der Dunkelheit so genau wie möglich zu betrachten. Als er schließlich wieder sprach, klang neue Ehrfurcht aus seiner Stimme: »Verzeiht, wenn wir Euren Unmut herausgefordert haben, Herr«, sagte er unterwürfig. »Ich... ich ahnte ja nicht, daß Ihr es seid.«
Hagen war sicher, daß er niemanden mit dem Namen Runold kannte. Andererseits hatte er an der Seite so vieler Männer gekämpft, deren Namen er nie erfahren hatte, daß dieser hier durchaus einer von ihnen sein mochte. Die Stimme jedenfalls war ihm fremd; sie verriet, daß Runold schon älter sein mußte. »Sollte ich Euch kennen?« fragte Hagen unsicher.
»Nicht mich, Herr«, gab der andere zurück. »Ich bin nur ein fahrender Gaukler, nichts sonst. Ganz unbedeutend neben Eurer Größe.«
Was faselte der Kerl da? Sein Unbehagen stieg.
»Was sagtet Ihr, wohin Euch Euer Weg führt?«
»Nach Zunderwald. Ein Dorf unten am Strom. Wir wollen die Leute dort mit unseren Künsten unterhalten.«
»Künsten oder Kunststücken?«
»Wie immer Ihr es nennen mögt, Herr.«
Runold verlangte nicht länger, daß Hagen seinen Namen nannte - und daß, obgleich er doch eben noch so voller Mißtrauen gewesen war. Hagen entschied, daß es an der Zeit war, diese Begegnung zu einem Ende zu bringen.