»Ihr habt nicht vielleicht ein wenig Wegzehrung, die Ihr einem hungrigen Fremden abtreten könntet?« Hagen schämte sich, fühlte sich jetzt schon wie die blinden Bettler in den Gassen, aber er wußte keine andere Möglichkeit, seinen Hunger zu stillen.
Verwunderung schwang in Runolds Stimme. »Nicht viel, Herr. Aber wenn Ihr etwas davon benötigt, so wollen wir gerne mit Euch teilen.«
»Die Götter werden Euch Eure Freundlichkeit vergelten«, sagte Hagen.
»Die Götter, Herr?«
»Seid Ihr Christen?« Hagen zog scharf die Luft ein, um seinen Unmut zu zeigen. »Nun, sicher wird der Christengott Eure Güte ebenso zu schätzen wissen.«
»O nein, Herr, keiner von uns ist getauft, das ist es nicht.« Runold stockte und rang hörbar um die richtigen Worte. »Aber... seid Ihr denn nicht der, der Ihr scheint?«
Hagen war durch Runolds merkwürdiges Verhalten - seine Scheu, die sich in Ergebenheit und nun wieder in Zweifel gewandelt hatte - mehr als verwirrt. Die Tatsache, daß er das Gesicht des anderen nicht sehen, nicht in seinem Ausdruck lesen konnte, verstörte ihn zutiefst.
»Wer glaubt Ihr denn, daß ich bin?« fragte er mit betonter Härte.
»Nun, ich...«, stammelte Runold. »Wißt Ihr, die Raben auf Euren Schultern...«
Die Raben auf meinen Schultern? Etwas in Hagens Kopf schlug Alarm. Vermochte die Dunkelheit den Alten so zu täuschen, daß er den Federkragen für lebende Vögel hielt?
Hagen horchte abermals auf das Krächzen. Es klang sehr nahe, fast an seinem Ohr. Aber ein Helm konnte Geräusche verzerren.
»Man hört nur von einem, der solche Macht über Raben besitzt«, sagte Runold.
Hagen schob alle Vorbehalte von sich. In seiner Lage mußte er jeden Vorteil nutzen, und wenn eine Täuschung ihm Macht über Runold und die seinen verlieh, nun gut, dann würde er sie nicht verschmähen. »Ihr habt recht«, sagte er kalt. »Ich bin der, für den Ihr mich haltet.«
Runold zögerte noch einen Moment, dann klang seine Stimme erfreut. »Ich wußte es gleich, als ich bemerkte, daß Euer Augenlicht nicht das beste ist.«
Und da verstand Hagen, worauf Runold hinaus wollte.
Aber das konnte doch nicht wirklich sein Ernst sein? Unmöglich.
Und doch war es so.
»Ich beuge mein Haupt vor Wodan, dem Herrn aller Götter«, sagte Runold. »Bitte, Herr, erweist mir die Gnade meiner Familie berichten zu dürfen, daß ihr wieder unter uns Menschen wandelt.«
Der Alte war verrückt, kein Zweifel. Vollkommen wirr im Kopf. Doch wenn das zu Hagens Vorteil war, hatte er nichts daran auszusetzen. Fraglich blieb, ob auch die anderen dieser Wahnvorstellung Glauben schenken würden; wie es schien, hatte er gar keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen.
Wodan, Oberhaupt der Götter, der während seiner Wege im Reich der Menschen als einäugiger Krieger umherzieht, gefolgt von seinen Raben, auf jeder Schulter einer. Der Graue Wanderer, der am Abend als ferner Schemen über Hügelkuppen geistert.
Der Gedanke war so abenteuerlich, so durch und durch irrsinnig, daß Hagen sich unter dem Helm ein Lachen verkniff.
Seine Verwirrung aber mehrte sich, als die übrigen Gaukler herankamen - jene, die Runold »meine Familie« genannt hatte. Es war unmöglich, aus dem Getuschel und dem Schlagen der Hufe heraushören, wie viele es waren. Hagen schätzte sie grob auf ein Dutzend, vielleicht ein oder zwei mehr. Sie hatten mindestens einen Pferdewagen dabei.
Zu Hagens Verblüffung glaubten sie Runold jedes Wort. Nicht einer äußerte Zweifel, nicht einer hatte Einwände.
Die Gaukler nahmen Paladin und seinen geheimnisvollen Reiter in ihre Mitte, reichten ihm Fladenbrot und Milch und schienen sich nicht im mindesten über seine offensichtliche Blindheit zu wundern. Schaukelnd setzte sich der Zug in Bewegung, schob sich knirschend und krachend durch die Nacht.
Hagen wurde von der Liebenswürdigkeit seiner Gastgeber überrumpelt und begann schon nach kurzer Zeit, sich in seiner Rolle recht wohl zu fühlen. Er überlegte, was wohl ein Gott in seiner Lage tun würde, um die Menschen bei Laune zu halten, und so beschloß er, ihnen Rätsel aufzugeben.
»Was wird auf der Erde geboren«, fragte er, »und stirbt im Himmel?«
Es gab viele Vermutungen, doch als Runold schließlich die Antwort fand - »Rauch« -, da klatschten die Gaukler begeistert Beifall.
Hagen kam sich albern vor. Nimmermehr, dachte er verzweifelt, wo bist du, wenn ich dich brauche?
Die Gaukler forderten weitere Rätsel, und er stellte ihnen eines, das schwieriger war: »Der Tote begräbt den Lebenden. Wer ist der Tote, wer der Lebende?«
Wieder gab es viele Mutmaßungen, und nach einigem Hin und Her erklärte Runold gelassen: »Asche und Feuer.«
Hagen hatte den Eindruck, als hätte Runold absichtlich die Fehlschläge der anderen abgewartet, damit sein eigener Triumph noch größer war. Wieder jubelten die Gaukler ihrem Anführer zu.
»Nicht schlecht«, sprach Hagen mißmutig. »Hier ist noch eines: Kein Meer ist es und macht doch Wogen, kein Schaf ist es und wird geschoren, kein Schwein ist es und hat doch Stoppeln.« Das war nun beileibe nicht schwer, und Hagen hoffte, daß einer der anderen die richtige Antwort finden würde, bevor Runold sich einmischte.
Viel Gemurmel gab es, viele falsche Ahnungen, dann sagte Runold: »Ein Kornfeld.« Jetzt klang er fast gelangweilt.
Waren denn diese Leute wirklich so schwer von Begriff? Hagen versuchte es ein viertes Mal. »Zwei treffliche Pferde, das eine schwarz wie Pech, das andere hell wie Kristall; sie laufen eilend voreinander her, aber niemals erreicht das eine das andere.«
Murren, Brummen, ein paar dumme Antworten.
Nach einer Weile sagte Runold: »Es sind Tag und Nacht. Das war leicht.«
»Mehr, mehr!« rief jemand. Andere pflichteten bei.
Auch Runold sagte: »Bitte, Herr, stellt mich noch einmal auf die Probe.«
Er sagte »mich«, nicht »uns«.
Hagen zögerte, dann nickte er. »Überlegt gut, denn es ist das letzte Rätsel, das ich Euch aufgeben will.« Er schwieg einen Augenblick, bevor er unheilschwanger fortfuhr: »Was kann der nicht geben, der es hat?«
Keiner sagte etwas, alle taten wohl, als dächten sie nach. Doch Hagen war jetzt sicher, daß der einzige Grund ihres Zögerns ihr Respekt vor Runold war; sie wagten nicht, ihrem Anführer zuvorzukommen.
Ich muß auf der Hut sein, dachte er düster. Und zugleich erinnerte er sich an die Gauklertruppen, die er früher getroffen hatte; sie alle waren am hellichten Tage, unter Tanz und Fanfaren, von Stadt zu Stadt gezogen.
Diese hier aber ritten bei Dunkelheit, wenn niemand sie sah. Etwas hatte ihnen den Frohsinn ausgetrieben. Sie scherzten nicht und tanzten nicht und sangen keine Lieder.
Da löste Runold das Rätsel.
Er sagte dumpf: »Der Tod.«
Kapitel 4
Hagens Ausflug zur Eiche hatte zur Folge, daß er eine weitere Woche im Bett zubringen mußte, eingesperrt in seiner Kammer, warmherzig umsorgt von Tilda, der Amme. Sie brachte ihm heiße Milch mit Honig, Brot und herzhaftes Fleisch und einmal sogar süßes Gebäck, das der Mundschenk für ihn hatte backen lassen. Hagens Vater, Graf Adalmar, kam jeden Abend vorbei, um nach ihm zu schauen, Dankwart sogar noch öfter, nur seine Mutter ließ sich nicht sehen. Wahrscheinlich war sie bei Viggo in der Kapelle und betete Rosenkränze für Hagens Genesung - so ihr überhaupt daran lag.
Im großen und ganzen erging es ihm während dieser Woche nicht schlecht, doch die Tatsache, daß die Tür verriegelt war, grämte ihn zutiefst. Die Aussicht aus dem einzigen Fenster, schmal und hoch wie eine Schießscharte, endete nach wenigen Schritten vor hohen Kiefern, die den Blick auf den Wald, den Fluß und die Klippe versperrten. Und auf den Baum, seinen Baum.