Am Abend des sechsten Tages bat er den Grafen: »Vater, ich würde gerne meine Eiche sehen können. Ich spüre, wie sie nach mir ruft. Ich muß sie sehen.«
Adalmars Gesicht umwölkte sich, denn es gefiel ihm nicht, daß ein Baum solche Macht über seinen Sohn hatte. Trotzdem beriet er sich mit Bärbart darüber und ließ sich von ihm überzeugen, daß alles zum Besten stünde.
Schon am nächsten Morgen wurde Hagen vom Lärm heftiger Axthiebe geweckt. Am Mittag schließlich lagen drei der Bäume gefällt neben dem Burggraben, und die Sicht war endlich frei.
Die Klippe ragte grau und spitz jenseits des Waldstreifens empor, und obenauf stand, wie die Warze auf Tildas Nase, Hagens alte Eiche. Er versuchte, den Spalt zu erkennen, doch die Entfernung war zu groß. Er spürte, daß das Stück Nacht noch immer im Baumstamm festhing, und darin, wie ein Edelstein auf schwarzem Stoff, ein winziger Splitter der Zeit.
Ob die Zeit sich ebenso eingesperrt fühlte wie er selbst in seiner Kammer? Etwas, das so uralt war wie sie, mußte die Gefangenschaft doch tausendmal schlimmer empfinden als er, der er nur ein Kind war und den Geschmack der Freiheit erst seit wenigen Jahren kannte! So seltsam es klang, plötzlich fühlte Hagen Mitleid mit der Zeit, mit jenem einsamen Augenblick, der aus seinem Gefüge gerissen und in einen Baum gesperrt worden war.
Und er fragte sich auch, ob das, was dem Baum und der Nacht und der Zeit angetan worden war, nur um einen kleinen Jungen zu heilen, wirklich richtig gewesen war.
Während er noch hinüber zur Klippe blickte, wurde er mit einemmal einer Bewegung gewahr, unten im Schatten des Waldes, nicht weit entfernt vom Ufer. Das Hochwasser war fast völlig zurückgegangen, der Rhein floß wieder in seinem angestammten Bett, und so verstieß die Gestalt dort unten nicht mehr gegen Adalmars Verbot, als sie sich so nahe am Fluß aufhielt.
Dankwart tat irgend etwas am Fuß einer Buche, unweit der einstigen Hochwassergrenze. Hagen blinzelte, um seinen Bruder besser erkennen zu können. Ja, er täuschte sich nicht: Es war Dankwart, und er grub etwas mit bloßen Händen aus der Erde. Dabei schaute er immer wieder verstohlenen Blickes in die Umgebung. Widerwillig trat Hagen einen Schritt zurück in den Schatten seiner Kammer, damit sein Bruder ihn nicht am Fenster entdeckte. Obwohl er keine Einzelheiten erkennen konnte, so hatte er doch nicht die geringsten Zweifel, was Dankwart dort unten versteckt hatte.
Unbändige Wut überkam ihn. Er spürte, wie sich Hitze in ihm breitmachte, so als setze der Zorn sein Inneres in Brand. Sein eigener Bruder hatte ihn bestohlen!
Starr blickte Hagen den Hang hinab, sah zu, wie Dankwart fündig wurde und ein hellbraunes Bündel zwischen den Wurzelsträngen hervorzog. Er öffnete es und wandte dabei Hagen den Rücken zu, so daß dieser nicht erkennen konnte, was sich darin befand.
Mein Gold! dachte Hagen immer wieder. Dieser Hundsfott hat mein Gold gestohlen!
Die Buche, an deren Fuß Dankwart kniete, war viele Mannslängen vom Baum der Zweiten Geburt entfernt. Doch als jetzt ein Wind aufkam, wandten sich die Äste der Eiche knarrend in Dankwarts Richtung, als wollten sie mit spitzen Zweigen nach ihm greifen.
Dankwart bemerkte es nicht, nahm überhaupt nichts um sich herum wahr. Er schien große Angst zu haben. Hagen wunderte sich, daß sein Bruder nicht zu seinem Fenster heraufblickte. Vor wem, wenn nicht vor Hagen, mußte er sich fürchten?
Irgend etwas stimmte nicht. Dankwart knüllte das Bündel zusammen, sprang auf und lief eilig Richtung Rheinufer. Auf dem Weg dorthin passierte er eine Mauer aus Tannen, die zwischen ihm und der Burg stand wie eine Reihe finsterer Wachtposten. Dahinter verschwand er aus Hagens Blickfeld.
Abermals ließ der Wind die Zweige der Eiche erbeben. Sie erinnerten Hagen an die ausgestreckten Hände einer Menschenmasse, die einer Hinrichtung entgegenfieberte.
Wo blieb Dankwart? Er hätte längst das andere Ende der Tannenmauer erreicht haben müssen.
Der Uferhang jenseits der Bäume blieb leer. Keine Spur von Dankwart.
Ein seltsames Gefühl beschlich Hagen, verdrängte seine Wut. Eine merkwürdige Mischung aus Furcht und angespannter Erwartung. Plötzlich wußte er, daß etwas geschehen würde. Und er war nicht sicher, ob er dabei zusehen wollte.
Ein Knirschen kroch über die Waldwipfel zum Fenster. Die Eichenzweige! Ihr morsches Reiben und Brechen drang bis zur Burg herauf, bis in Hagens Kammer, direkt an sein Ohr.
Ein Schemen lenkte seine Aufmerksamkeit von der Eiche zurück zum Spalier der Tannenwächter.
Da - sein Bruder lief den Hang hinunter! Er humpelte leicht, mußte hinter den Bäumen gestolpert sein. Über seinem rechten Knie war das Beinkleid zerrissen. Noch gut zehn Schritte, dann würde er am Ufer sein. Er lief so schnell er konnte, schaute sich nicht um. Falls etwas hinter ihm her war, so hatte er es noch nicht bemerkt.
Ein Rauschen lief durch die Reihe der Tannen. Der Wind, vielleicht - oder etwas, das sich von Stamm zu Stamm hangelte, rasend schnell im Schutz der Zweige.
Dankwart erreichte das Ufer. Die Strömung leckte zu seinen Füßen empor, schäumte vor Wut, als sie ihn nicht zu packen bekam.
Dankwart ergriff das Bündel mit der Rechten, holte weit damit aus.
Ein irres Kreischen gellte über den Wald.
Auch Hagen schrie. »Nein!« brüllte er aus dem Fenster, ein langgezogener Laut voller Zorn und Enttäuschung.
Das Bündel raste nach vorne. Der braune Sack sauste über das Wasser hinweg, noch in der Luft löste sich der Knoten. Gold regnete auf die Oberfläche herab, Geschmeide aller Art, grell und funkelnd. Wie Sternschnuppen sausten die Schmuckstücke über das Grau der Wellen, klatschten auf, versanken. Das zerfetzte Bündel fiel als letztes ins Wasser, wurde ebenso verschluckt wie sein Inhalt.
Die Tannen erstarrten im selben Augenblick. Ein Zittern durchlief die Krone der Eiche, dann erschlafften auch ihre Äste. Der Wind heulte weiter um die Burg, über die Wälder und den Fluß, aber er vermochte weder Eiche noch Tannen so zu bewegen wie noch vor wenigen Augenblicken.
Dankwart sackte am Ufer zusammen, sein Blick löste sich von der Oberfläche und huschte herauf zu Hagens Fenster.
Die beiden Brüder starrten sich stumm in die Augen.
Hinter Hagen flog mit einem Krachen die Tür auf.
»Ist Bärbart bei dir?«
Es war sein Vater, und er wirkte besorgt. Sein Gesicht war gerötet. Hinter ihm auf dem Gang standen zwei Männer seiner Leibgarde, die Hände an den Schwertgriffen.
Ehe Hagen noch aus seiner Erstarrung erwachen, den Schreck überwinden konnte, gab Adalmar sich selbst die Antwort: »Nein, offenbar nicht.« Trotzdem sah er sich eingehend um, als erwartete er ernsthaft, Bärbart habe sich unter Hagens Lager versteckt.
»War er hier?« fragte er schließlich. Er sah aus, als würde er ein Nein nicht akzeptieren, so zornig war sein Blick.
Hagen fand allmählich zurück zu sich selbst. »Nein«, stammelte er. »Nein, er war nicht bei mir. Was ist geschehen?«
Adalmar drängte an Hagen vorbei zum Fenster, schaute mit wildem Blick hinaus und stapfte wütend zurück zur Tür. »Bärbart ist fort. In Luft aufgelöst!«
Hagen versuchte, seinen Schmerz über den Verlust des Goldes zu überspielen. Bärbarts Verschwinden kümmerte ihn nicht, er hatte ihn nie gemocht. »Fort? Einfach so?«
»Vorher hat er noch mit Viggo gesprochen.«
»Mit Viggo?« Das war allerdings eigenartig; Bärbart und der Pfaffe hatten sich gehaßt.
»Bärbart hat ihm gesagt, es sei an der Zeit, daß er uns verläßt. Viggo behauptet, Bärbart habe ganz offensichtlich vor etwas Angst gehabt, er sei fahrig und unbeherrscht gewesen.«
»Ich glaube nicht, daß Bärbart Viggo gegenüber jemals beherrscht war.«
Adalmar hob eine Augenbraue. »Das hier ist kein Spaß, Junge«, sagte er scharf.