Hagen zuckte zusammen. »Natürlich nicht, Vater.«
»Bärbart hat Viggo aufgetragen, mir eine Nachricht zu übermitteln, einen gutgemeinten Rat.« Der Graf atmete tief durch, als hätte er die Worte noch immer nicht verkraftet. »Bärbart hat gesagt, ich soll dich töten, Hagen!«
Hagen ließ sich gegen die Mauer sinken, schloß die Augen. Schwindel überkam ihn. Er sah wieder das Gold über den Fluß trudeln, sah es versinken in einem grauen Mahlstrom, rund und rund und rund.
»Mich... töten?« brachte er stockend hervor.
»Ja.« Adalmar klang hart, Verbitterung sprach aus seiner Stimme. »Es sei sein letzter Rat an mich, hat er gesagt. Verflucht, kannst du dir das vorstellen?« Jetzt schrie er, daß sogar die Wachen auf dem Flur zusammenfuhren. »Mein engster Berater verlangt von mir, meinen eigenen Sohn zu ermorden!«
Ganz kurz überkam Hagen die Gewißheit, daß sein Vater nur deshalb hier war: um Bärbarts Rat in die Tat umzusetzen. Er würde die beiden Männer hereinwinken, damit sie Hagen erschlugen. Doch der Graf drückte seinen Sohn fest an die breite Brust, fuhr ihm mit der Rechten übers Haar, dann drehte er sich um und verließ die Kammer. Hagen hörte, wie er mit seiner Garde davonstürmte, um Bärbart anderswo zu suchen.
Dabei vergaß er, den Riegel vorzuschieben.
Erst später kam Hagen die Ahnung, daß sein Vater die Tür in voller Absicht offengelassen hatte. Vielleicht hatte er gehofft, Hagen würde fliehen, würde fortgehen aus der Burg, fort aus den Landen derer von Tronje. Was immer Bärbarts Befürchtungen gewesen waren, sie wären damit hinfällig geworden.
Doch Hagen blieb. Zwar trat er aus der Kammer, die drei Wochen lang - mit einer kurzen Unterbrechung - sein Gefängnis gewesen war. Aber er stieg nicht die Treppen hinab, um die Burg zu verlassen. Ganz im Gegenteiclass="underline" Er lief die Stufen zum höchsten Turm hinauf, die unteren aus Stein, die letzten aus knarrendem Holz. Durch eine Luke kletterte er schließlich ins Freie.
Dankwart hockte vor den Zinnen, die Knie angezogen, den Rücken gegen die Mauer gepreßt. Die Abschürfung unter seinem zerrissenen Hosenbein blutete noch immer, ganz schwach. Er war nicht überrascht. Er sah zu, wie Hagen aus der Falltür stieg und sich vom düsteren Himmel abhob wie ein Riese. Dies hier war immer ihr Lieblingsort gewesen, hier hatten sie gespielt, gelacht, gestritten.
Diesmal stritten sie nicht. Sie lachten auch nicht.
Hagen ließ sich stumm auf der anderen Seite der Zinnenkrone nieder, hockte sich genauso hin wie sein Bruder, und so saßen sie sich gegenüber, zwei Kinder mit den Gedanken von Erwachsenen.
Über ihnen schwebten Wolken dem trüben Horizont entgegen wie riesige Schwärme von Zugvögeln. Weit, weit unter ihnen toste der Fluß.
Als das Schweigen lauter wurde als jeder Wutausbruch, sagte Hagen: »Bärbart hat es so gewollt, nicht wahr?« Er sprach sehr leise, so daß Dankwart die Worte gerade noch verstehen konnte.
»Er kam zu mir.« Dankwarts Gesicht war bleich, als wäre es aus Wolken geformt. »Er sprach über dich, über viele Dinge, auch über das Gold. Er hat mir vom Siebenschläfer erzählt.«
Hagen rieb sich mit den Fingern durch die Augen. »Vom Siebenschläfer?« fragte er verständnislos.
»Das Gold gehörte ihm«, sagte Dankwart. »Du hast es ihm gestohlen.«
»Du hast Bärbart von den Tannen im Wasser erzählt?«
»Ich konnte nicht anders. Ich hatte Angst um dich.«
Hagen blickte seinem Bruder eingehend in die Augen, beobachtete jede seiner Regungen, um festzustellen, ob Dankwart die Wahrheit sagte.
Es gab nicht das geringste Anzeichen einer Lüge.
»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du das Gold hast?« fragte Hagen.
»Weil ich es für mich haben wollte, Dummkopf. Warum sonst?«
Hagen blinzelte. »Aber du hast Angst bekommen - nicht um mich, sondern um dich selbst. So war es doch, oder?«
Aus der Tiefe des Burghofs drangen Rufe herauf. Immer noch suchte man nach Bärbart. Offenbar wollte Adalmar nicht glauben, daß sein Berater wirklich fortgegangen war. Möglicherweise fürchtete er auch, Bärbart könnte sich im Schloß verstecken, um Hagen später mit eigener Hand zu töten.
»So einfach war es nicht«, sagte Dankwart. Er erwiderte Hagens stechende Blicke ernsthaft, aber ohne Trotz. »Ich habe Bärbart erzählt, was du erlebt hast. Heute morgen erst. Er wurde aschfahl im Gesicht. Ich habe nie erlebt, daß jemand so erschrocken aussah, nicht mal Tilda, als wir ihr die tote Ratte unters Kissen geschoben haben.« Er kicherte, aber Hagen blieb ernst. Dankwart fuhr fort: »Bärbart wollte das Gold mit eigenen Augen sehen, aber ich habe nein gesagt. Ich dachte, er wollte es stehlen. Da hat er gesagt, ich müsse es in den Fluß werfen, zurück zum Siebenschläfer. Es sei verflucht, hat er gesagt, und wir alle mit ihm. Vor allem du.«
Hagen zog eine verächtliche Grimasse. »Und das hast du ihm geglaubt?«
»Nicht sofort. Ich bin vor ihm fortgelaufen, ich dachte, er würde das Versteck des Goldes aus mir herausprügeln. Dann sah ich vom Gang aus, wie Bärbart seine Kammer verließ. Ich dachte, er würde wohl zu Vater gehen und ihm alles erzählen. Das hat mir wirklich angst gemacht, mehr als alles, was Bärbart bis dahin gesagt hatte. Deshalb bin ich ihm nachgeschlichen, um zu hören, wieviel er Vater verraten würde. Du kannst dir vorstellen, wie überrascht ich war, als er hinunter in die Kerker stieg, in Viggos Kapelle. Bis dahin hatte ich geglaubt, er wüßte nicht einmal den Weg dorthin. Der Pfaffe hat ihn erst beleidigt, hat irgendwas von Entweihung eines heiligen Ortes gefaselt. Na, du kennst ihn ja.«
»Nicht so gut wie Mutter.«
»Irgendwann hat Viggo sich beruhigt. Und dann hat Bärbart ihm gesagt, daß er die Burg verlassen würde. Es sei nicht mehr sicher hier, hat er gesagt, alle würden bald sterben.«
»Hat er gesagt warum?«
»Wegen dir.«
»Das dachte ich mir.«
Dankwart sah ihn einen Moment lang erschrocken an, dann schweifte sein Blick von Hagens Gesicht über die Zinnen hinweg in den Himmel. Ein Raubvogel kreiste mit weiten Schwingen um den Turm.
»Bärbart hat gesagt, du hast den Fluch des Siebenschläfers auf dich geladen«, sagte Dankwart. »Und auf uns. Auf alle hier. Viggo täte gut daran, ebenfalls zu fliehen, hat Bärbart ihm geraten.«
»Wahrscheinlich wollte er ihn nur überzeugen, wie wichtig es sei, daß ich sterbe.«
Dankwarts Kopf ruckte hoch. »Dann weißt du es schon?«
»Vater war bei mir.«
»Etwa um -«
»Vielleicht«, unterbrach Hagen ihn ruhig. »Aber er hat es nicht getan, wie du siehst.« Er hörte sich sprechen wie einen Fremden und zweifelte einen Herzschlag lang, ob es wirklich er selbst war, der da redete.
Auch Dankwart wunderte sich über Hagens Gelassenheit. Eine Spur von Mißtrauen lag in seiner Stimme, als er fortfuhr: »Bärbart hat Viggo aufgetragen, er müsse Vater ausrichten, wie wichtig es für alle sei, daß du getötet wirst. Dabei warst du doch immer sein Liebling.«
»Ich konnte ihn genausowenig leiden wie du.«
»Aber er hat dich für den besseren Erben der Grafschaft gehalten«, sagte Dankwart bedrückt. »So wie alle es tun.«
»Hast du deshalb das Gold genommen? Aus Furcht, Vater könnte dich verstoßen, wenn er auf die anderen hören würde?«
Dankwart gab darauf keine Antwort. Es war nicht nötig. Statt dessen blickte er betreten auf seine Stiefel und sagte: »Ich dachte, wenn das Gold fort ist, dann verschwindet auch der Fluch. Zumindest hätte es dann keine Beweise mehr gegeben für das, was Bärbart gesagt hat. Ich hoffte, Vater würde ihm dann nicht mehr glauben und dich am Leben lassen.« Zum ersten Mal sprach Verzweiflung aus einer Stimme, er redete immer schneller, ohne Pausen. »Vater tut doch sonst immer alles, was Bärbart sagt, und ich habe Angst gehabt, er könnte dich wirklich töten, nur wegen einem Bündel voll Gold, und dann wäre ich ganz alleine gewesen, und alle hätten mich nur noch mehr verabscheut, hätten mir vielleicht gar die Schuld an allem gegeben, wer weiß?«