Hagen schloß einen Atemzug lang die Augen, dann kroch er auf Dankwart zu und legte den Arm um die Schultern seines Bruders. Dankwart blickte zu Boden, er weinte. Hagen hatte ihn seit Jahren nicht mehr weinen sehen, nicht seit ihr Vater ihn im Zorn angebrüllt hatte, daß niemals ein so tapferer Ritter aus ihm werden würde wie dereinst aus Hagen. Damals hatten ihn Dankwarts Tränen geschmerzt wie Nadelstiche.
»Es ist gut«, sagte er jetzt, denn er spürte erneut, daß er es nicht ertragen konnte, wenn Dankwart weinte. »Ich lebe ja noch, und Bärbart ist fort, hoffentlich für immer. Und das Gold« - er zögerte einen Augenblick lang - »das Gold liegt auf dem Grund des Flusses.«
Dankwart wischte sich die Tränen von den Wangen. »Was ist mit dem Siebenschläfer?«
»Was soll mit ihm sein? Glaubst du wirklich daran?« Hagen bemühte sich, die eisige Kälte, die in ihm aufstieg, zu unterdrücken. Der Siebenschläfer - vielleicht war er wirklich schon in ihm, zornig über den Diebstahl seiner Schätze.
»Viggo hat Bärbart ausgelacht, als er davon sprach«, sagte Dankwart. Seine Augen waren rot, aber wenigstens weinte er nicht mehr. »Bärbart hat ihn angebrüllt, der Siebenschläfer sei keine Erfindung alter Weiber, es gebe ihn wirklich, ganz tief unten im Wasser des Rheines. ›Er ist selbst schon wie der Fluß‹, hat er gesagt, ›kalt und finster und reißend wie ein wildes Tier‹.«
Hagen löste sich von Dankwart und zog sich an einer Zinne auf die Füße. Über die Mauerzacken hinweg starrte er hinab auf das farblose Band des Flusses. Es verschwand im Norden und Süden hinter fahlgrünen Berghängen. Von hier oben war die Strömung kaum auszumachen, der Fluß sah so friedlich aus; er lockte Hagen, sich über die Zinnen zu schwingen, hinabzuspringen ins Leere und, vielleicht, tief ins kalte Wasser zu tauchen. Dorthin, wo sein Gold war, hinab zu den Klüften der Rheintöchter.
Dankwarts Hand legte sich auf Hagens Schulter und zog ihn zurück in die Wirklichkeit. »Was weißt du über den Siebenschläfer?«
Der jammernde Wind drohte Hagens Worte von den Lippen zu pflücken wie faule Früchte. »Er ist ein Gespenst, der Geist von sieben goldgierigen Räubern, die in ihrer Höhle vom Hochwasser überrascht wurden, vor vielen, vielen Jahren. Manche Bauern bringen ihm Opfer dar, wenn der Rhein über die Ufer tritt. Sie glauben, der Siebenschläfer könne den Fluß beruhigen.«
Dankwart stützte sich mit dem Ellbogen auf eine Zinne, zog den Arm aber schnell zurück, als er bemerkte, wie kalt das Gestein war. »Ich meinte nicht die Legende. Ich wollte wissen, was du über den Siebenschläfer weißt.«
»Du denkst, ich hätte ihn wirklich getroffen?« Hagen schüttelte verwundert der Kopf. »Du schenkst Bärbarts Worten mehr Glauben als denen deines Bruders?« Er schnaubte verbittert und schaute abermals in die Tiefe. »Sag mir die Wahrheit, Dankwart, was hat Bärbart noch zu dir gesagt, bevor er sich bei Viggo ausgeheult hat?« Ganz kurz durchzuckte ihn beim Wort »heulen« ein Anflug von Schuldgefühl; es war unrecht, es als Beleidigung zu benutzen, wenn Dankwarts eigene Tränen kaum getrocknet waren.
Dankwart sah an Hagen vorbei, sein Blick folgte dem kreisenden Raubvogel. »Er hat gesagt, wenn ein Geist einen Menschen trifft, dann weiß er im gleichen Augenblick alles über ihn. Er kennt die Freunde des Menschen, seine Familie, sogar seine geheimsten Gedanken. Einfach alles. Und manchen Geistern gefalle es, einem Menschen all diese Dinge wegzunehmen. Bärbart hat gesagt, der Siebenschläfer ist so ein Geist. Erst würde er mich töten, dann Vater und Mutter, alle anderen in der Burg, und ganz zum Schluß, wenn du ihn darum bittest, auch dich.«
»So weit wird es nicht kommen«, widersprach Hagen. »Wir werden den Siebenschläfer vernichten, du und ich.«
Sein Bruder schüttelte traurig den Kopf. »Bärbart hat gesagt, nur ein Geist kann einen anderen Geist zerstören. Menschen haben nicht die Macht dazu.«
»Bärbart hat gesagt, Bärbart hat gesagt«, äffte Hagen ihn zornig nach. »Irgendwas wird uns schon einfallen.«
»Vielleicht reicht es ja, daß er sein Gold zurückbekommen hat.«
Hagen schaute wieder zum Fluß hinunter, auf die Stelle, an der Dankwart das Gold in die Wogen geschleudert hatte. War der Siebenschläfer jetzt irgendwo dort unten? Hörte er jedes ihrer Worte?
Standhaft faßte er einen Entschluß. »Ich werde hinuntergehen und mit ihm reden.«
Dankwarts Unterkiefer klappte herunter. »Mit dem Siebenschläfer? Bist du verrückt geworden?«
»Mit ihm«, sagte Hagen grimmig, »oder mit dem Fluß. Einer von beiden wird mir schon zuhören.«
In der Nacht schlich er sich aus der Burg.
Ungesehen ins Freie zu gelangen war keineswegs einfach, denn der Graf hatte nach Bärbarts Verschwinden die Wachen an den Toren und oben auf den Wehrgängen verdoppeln lassen. Aber Hagen kannte alle geheimen, unbewachten Winkel des Gemäuers, und er wußte, wie man in ihrem Schatten nach draußen gelangte. Allerdings brauchte er länger dafür, als er gehofft hatte, und so war Mitternacht vorüber, als er im Schutz der Bäume zum Fluß hinabhuschte.
Der Mond spiegelte sich auf den Wellen, und das Flüstern der Strömung rauschte in Hagens Ohren. Er versuchte, es zu verstehen, dachte, es wolle vielleicht zu ihm sprechen, doch er hörte nur wirres Säuseln und Wispern und Glucksen.
Auf halbem Weg drehte Hagen sich noch einmal um und schaute hinauf zur Burg. Nur eine Reihe von Fackeln auf den Zinnen verriet, daß sie sich nicht in Luft aufgelöst hatte; der Rest verschmolz völlig mit der pechschwarzen Nacht.
Sein Blick streifte auch die Klippe, auf deren Spitze die Eiche stand. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn das Hochwasser jemals so weit steigen würde, daß es den Baum erreichte. Das Gerede seiner Mutter vom Klabautermann kam ihm in den Sinn. Er schauderte und wandte sich ab.
Während seines Abstiegs zum Ufer passierte er die hohe Mauer der Tannen, hinter der Dankwart sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es lag kaum einen halben Tag zurück, da Hagen in den Zweigen eine wellenförmige Bewegung beobachtet hatte. Nur der Wind, dachte er verbissen. Dann aber kam ihm in den Sinn, daß die Bäume noch vor wenigen Tagen unter der Wasseroberfläche gestanden hatten. Hatte irgend etwas die Gelegenheit genutzt und sich in ihren Ästen eingenistet?
Er rannte so schnell er konnte, panisch fast, bis er die Tannen hinter sich gebracht hatte und den Fluß erreichte.
Der Mondschein umrahmte drei Gestalten. Stumm blickten sie Hagen entgegen.
Er blieb schlagartig stehen.
Es waren drei Frauen, mit nassem, hüftlangem Haar. Sie standen bis zu den Knien im Wasser, die Säume ihrer Gewänder wogten auf den Wellen. Der Mond beschien sie von hinten, ihre Gesichter waren in Schwärze gehüllt.
»Du also bist Hagen von Tronje«, sprach die erste mit altersloser Stimme.
Die zweite kicherte hinter ihrem Schattenschleier. »Er ist jung.«
»Ein Kind noch«, sagte die dritte.
Hagen raffte all seine Kühnheit zusammen. »Manns genug jedenfalls, Euch zurück ins Wasser zu jagen, wenn es sein muß.«
»Er spricht mutig.«
»Wagemutig.«
»Waghalsig.«
»Hals über Kopf.«
»Den Kopf will ich. Mit dem Hals macht, was ihr wollt.«
Haltloses Gekicher folgte.
»Für mich die Beine.«
»Die Arme mir.«
»So wird geteilt die Hühnerbrust, das kleine Herz darin.«
»Habt ein Herz, Schwestern, und nehmt ihn euch zur Brust.«
Hagen stand starr, wie angewurzelt. Viel hörte man in jenen Tagen von den kindischen Späßen der Wasserfrauen, doch sie dabei tropfend und gackernd vor einem zu sehen, das war eine ganz andere Sache.
Er hatte große Angst, obgleich er sich vornahm, sie so gut als möglich zu verbergen. »Seid Ihr Damen hier, um mit mir zu sprechen, oder wollt Ihr nur dumme Scherze machen?«