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»Einen Schatz«, äffte ihn sein Bruder mit piepsiger Stimme nach und rollte mit den Augen. Im Mondlicht sah die Grimasse unheimlicher aus, als er ahnte. »Ein paar alte Fische werden drinliegen, wahrscheinlich schon angefault.«

»Sei nicht so langweilig.«

»Was willst du denn tun? Vielleicht rüberschwimmen?«

»Nein«, gab der Junge zurück, und gleich darauf verzogen sich seine Mundwinkel zu einem triumphierenden Grinsen. »Aber mit dem Baumstamm da vorne könnte es gehen.«

Sein Bruder folgte seinem Blick zu einer gefällten Birke; die Holzfäller würden sie erst am nächsten Morgen zur Burg hinaufbringen.

Der Junge war vor Begeisterung nicht mehr zu halten. Er lief zu dem Stamm hinüber und zerrte an den Ästen. Es war ein junger Baum, von Krankheit zerfressen, und er war nicht allzu schwer. »Komm schon, zu zweit können wir es schaffen.«

Auch in den Augen seines Bruders flackerte jetzt Wagemut, doch er gab sich Mühe, ihn sich nicht einzugestehen. »Wenn Vater davon erfährt, wird er -«

»Gar nichts wird er.« Der Junge hatte den Stamm schon ganz allein die halbe Strecke zum Ufer herabgezogen. »Vater und die anderen feiern, sogar die Wächter auf den Zinnen würfeln und trinken. Niemand wird etwas bemerken.«

»Wenn einer von uns ins Wasser fällt«, begann sein Bruder schwerfällig, verstummte aber sogleich. Natürlich reizte auch ihn das Abenteuer, und an einem gab es nichts zu rütteln: Die Gefahr einer Strafe war denkbar gering.

Mit einem kräftigen Atemholen - das hatte er dem Stallmeister abgeschaut, bevor der den Kindern etwas durchgehen ließ - trat er an die Seite des Jungen. Gemeinsam schleppten sie den Stamm das letzte Stück zum Wasser hinunter.

»Und nun?«

Der Junge runzelte altklug die Stirn. »Wir müssen ihn ein Stück weiter flußaufwärts ziehen. Wenn wir den Stamm dort ins Wasser schieben, treibt ihn die Strömung hierher. Vielleicht verkeilt er sich dann zwischen dem Boot und dem Ufer.«

»Hoffentlich.«

Ächzend vor Anstrengung setzten sie den Plan in die Tat um, und tatsächlich: Wenig später bildete der Birkenstamm eine wacklige Brücke zwischen Wiese und Wrack. Auf der schwarzen Flußoberfläche schimmerte er bleich wie ein mächtiger Knochen.

Die beiden zerrten an den Ästen und prüften, ob der Stamm festsaß. Fest genug.

»Ich geh’ zuerst«, sagte der Junge und kletterte flink ins Gehölz.

»He!« rief sein Bruder. »Wir sollten das auslosen.« Aber es war kein ernstgemeinter Widerspruch; in Wahrheit war er froh, daß er das Wagnis nicht als erster eingehen mußte.

Der Junge kletterte auf allen vieren über den Stamm. Der Baum lag zur Hälfte unter Wasser, die Strömung spülte über ihn hinweg. Es war schwierig, nicht den Halt zu verlieren. Die nasse Rinde war glatt und löste sich in breiten Fetzen, und mehrmals war der Junge nahe daran, kopfüber in die Fluten zu stürzen. Sein Herzschlag raste, vor Anspannung hielt er die Luft an. Er hatte schreckliche Angst.

Schließlich berührte seine ausgestreckte Hand den Bootsrumpf. Die Reling des Wracks schwankte hinauf und herunter, war mal in Schulterhöhe, mal hoch über seinem Kopf. Dem Jungen blieb nichts anderes übrig, als sich mit beiden Händen daran festzuhalten und sich bei der nächsten Woge mit nach oben ziehen zu lassen. Inmitten der schäumenden Gischt war das alles andere als ein Kinderspiel.

Sein Bruder rief ihm eine Warnung zu. Das Tosen des Flusses und der jammernde Wind rissen die Worte von seinen Lippen, verwehten sie im Nichts.

Die Finger des Jungen krallten sich um die Reling. Er schloß die Augen und zählte in Gedanken: eins, zwei, drei -

Die Woge kam mit entsetzlicher Wucht und schleuderte das Wrack nach oben. Der Ruck riß dem Jungen fast die Arme aus den Gelenken. Seine Füße wirbelten aus dem Wasser, er selbst rutschte am Rumpf empor, schrie auf - und hing plötzlich mit dem Oberkörper über der Reling. Geistesgegenwärtig ließ er sich nach vorne sacken, polterte aufs Deck. Gerade noch rechtzeitig, denn im selben Augenblick krachte das Boot zurück nach unten. Die Bewegung hätte ihn rückwärts ins Wasser geschleudert.

Benommen kämpfte sich der Junge auf Hände und Knie. Im Prasseln der Gischt, die ihm wie Hagel ins Gesicht schlug, schaute er sich um. Das Boot war nicht breit, fünf Schritte vielleicht. Der Bug war erhöht, dort führte eine Falltür unter Deck. Der Riegel hatte sich gelöst, die Klappe schlug bei jeder Woge auf und zu, auf und zu...

Er hatte sich nicht getäuscht. Das Deck war verlassen.

Ihm fiel ein, daß sein Bruder ihn hinter der Reling nicht sehen konnte und sich bestimmt schon Sorgen machte - vor allem um sein eigenes Sitzfleisch, denn falls dem Jungen etwas zustieß, würde die Strafe des Vaters zweifellos seinen Bruder treffen.

Abermals zog er sich an der Reling empor, diesmal an der Innenseite. Ein eisiger Wasserschwall klatschte in sein Gesicht. Täuschte er sich, oder war der Wind stärker, die Strömung noch schneller geworden? Hatte der Fluß auch vorhin schon mit solcher Wut am Rumpf gerissen?

Er erhaschte einen Blick aufs Ufer, ehe ihn die nächste Woge traf. Sein Bruder gestikulierte wild mit beiden Armen, schrie irgend etwas hinaus in das Donnern der Brandung.

Der Junge entdeckte, was er meinte, als er hinab auf die Oberfläche blickte.

Der Birkenstamm war verschwunden. Er mußte sich aus der Verkeilung gelöst haben, war vom Strom davongerissen worden. Es gab keine Verbindung mehr zum Ufer.

Eine eiskalte Faust legte sich um sein Herz. Seine Knie erbebten, seine Finger wollten sich zitternd von der Reling lösen. Panik griff nach seinem Denken. Er war allein hier draußen, dem Fluß und dem Sturm hilflos ausgeliefert, ohne Hoffnung auf -

Ein Knirschen riß ihn aus seiner Erstarrung. Holz knarrte lautstark, kreischte auf wie ein kleines Kind. Etwas brach und zerbarst. Gleichzeitig wurde das Wrack herumgeschleudert, schwenkte blitzschnell in die Strömung, löste sich aus der Umklammerung der Baumkrone.

Der Junge sah gerade noch durch einen Schleier aus Tränen und Rheinwasser, wie sein Bruder und das Ufer davonrasten. Dann begriff er, daß er selbst es war, der sich entfernte! Das Boot trieb flußabwärts davon!

Er verlor seinen Halt, polterte quer über Deck und schlug gegen die Reling auf der anderen Seite. Eine Ruderbank bremste seinen Sturz unsanft mit einer scharfen Kante. Einen Moment lang sah er nur Funken, die vor seinen Augen auseinanderstoben. Ein Gewitter aus Schmerz und Verzweiflung donnerte durch seinen Schädel.

Irgendwie gelang es ihm trotzdem, neuen Halt zu finden. Mühsam zog er sich an der Holzbank entlang zur Reling, blickte darüber hinweg. Durch Gischtschleier sah er das Westufer des Stroms, grau und farblos im Mondenschein. Als er sich umsah, erkannte er hoch über dem gegenüberliegenden Ufer auch die erleuchteten Fenster der Burg. Sie wurden mit erschreckender Geschwindigkeit kleiner. Sein Bruder war nicht mehr zu sehen, ebensowenig die Stelle, an der das Wrack festgesessen hatte.

Das Wrack trieb in der Mitte des Stroms. Der Fluß war durch das Hochwasser mehr als doppelt so breit wie sonst. Unmöglich, von hier aus an Land zu schwimmen.

Das Boot wird irgendwann zerschellen, durchfuhr es den Jungen. Er ahnte, daß das auch sein eigenes Ende sein würde.

Ein gutes hatte die rasende Fahrt den Strom hinunter: Das entsetzliche Auf- und Abwippen des Wracks hatte aufgehört, nicht gänzlich, aber doch soweit, daß nicht in jedem Augenblick die Gefahr bestand, über Bord geschleudert zu werden. Und so lange sich das Boot in der Flußmitte hielt, konnte es auch an keinen Felsen zerschmettern.

Gleichzeitig aber entfernte sich der Junge weiter und weiter von zu Hause. Nun peinigte ihn nicht nur die Angst zu sterben, auch die Furcht vor der Fremde überkam ihn.

Er war hilflos, der dämonischen Gewalt des Flusses und den knarrenden Planken unter seinen Füßen vollkommen ausgeliefert.