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Hagen hatte erwartet, daß Runold sie nach Gauklerart anpreisen würde, lautstark und aufdringlich. Doch der Alte schwieg ebenso wie die anderen.

»Wie bringst du die Leute dazu zu glauben, es seien tatsächlich Götter, die in ihr Dorf einreiten?«

»Ein bescheidenes Talent, über das ich verfüge«, gab Runold im Flüsterton zurück. »So hat eben jeder von uns sein kleines Geheimnis, nicht wahr?«

Wo waren die Stimmen der Kinder, die jeden Gauklerzug bei seiner Ankunft umgaben? Wo die Musik, wo das Jubeln der Dorfbewohner?

Statt dessen empfing man sie mit zugeschlagenen Fensterläden und und furchtsamem Raunen. Für die Menschen hier waren die Reiter keine Gaukler, keine Spaßmacher und Illusionäre. Egal welche Magie Runold auch einsetzte, um diese Leute den Schwindel glauben zu machen, sie tat ihre Wirkung mit größtem Erfolg.

Und da erst begriff Hagen mit aller Klarheit, daß er für diese Menschen wirklich ein Gott war.

Unwillkürlich fragte er sich, was wohl Wodan - der echte, der wahrhaft göttliche - von Runolds Betrügereien halten mochte. Aber Hagen fürchtete sich nicht. Er hatte andere Feinde, die ihn ängstigten. Die Götter waren weit entfernt, doch der Fluß umarmte ihn mit seiner eisigen Flut, mit seinem Gestank, mit seinem hohnvollen Flüstern.

Nimmermehr, dachte er in einem Anflug von Panik, wenn du irgendwo in der Nähe bist, dann komm her und hilf mir!

Kurz darauf ließ Runold die Pferde anhalten. Ein Mann mit dröhnender Stimme - er spielte die Rolle des Gewittergottes Donar - erklärte Hagen, sie befänden sich ein wenig außerhalb des Dorfes, an der Spitze der Landzunge. Einige von ihnen würden jetzt ein Zelt aufbauen. Darin dürfe je ein Dorfbewohner gegen Bezahlung einem der Götter gegenübertreten. Die meisten würden um Beistand flehen, erklärte der falsche Donar schmunzelnd, manche ein Opfer darbringen und wieder andere einfach nur dummes Zeug reden, bis einem die Ohren schmerzten.

»Hat nie jemand Zweifel an eurer Echtheit gehabt?« fragte Hagen ungläubig.

Der Mann stieß ein grollendes Lachen aus. »Niemals. Sie alle kommen brav wie Lämmer, demütig, ängstlich - und durch und durch gläubig.«

»Und das bewirkt allein Runolds Zauber?«

»Es muß wohl so sein.« Der Mann klang nicht, als hätte er sich allzu viele Gedanken über diese Frage gemacht. »Keiner weiß das ganz genau. Weißt du, wir Menschen sind ein Haufen dummer Esel; wenn wir glauben wollen, daß ein Gott zu uns spricht, nun, dann glauben wir es eben.«

Hagen hörte, wie sich der Mann entfernte. Er tastete mit den Händen über seine Schultern, doch die beiden Raben waren verschwunden. Er fragte sich, ob er dieses Wunder Nimmermehrs Mantel zu verdanken hatte; es war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.

Bis zum Abend geschah wenig. Hagen saß am Boden, wünschte sich, er könne sein Kettenhemd ausziehen, hielt es aber in seiner Lage nicht für ratsam. Runolds Leute mochten - im Gegensatz zu ihrem Anführer - wie harmlose Narren klingen, doch konnte er dessen nicht sicher sein. Ihr demütiges Verhalten beim Rätselraten war ihm noch gut im Gedächtnis, und er wollte es nicht darauf ankommen lassen, sich allein ihrem guten Willen auszuliefern.

Das hast du doch längst, sagte eine Stimme in seinem Inneren. Erst hast du dich dem Mädchen ausgeliefert und nun diesem Haufen von goldgierigen Wirrköpfen.

Plötzlich hob Runold seine Stimme. »Wir sind soweit. Ich habe den Leuten im Dorf gesagt, bei Sonnenuntergang seien wir bereit für sie.« Er räusperte sich lautstark. »Nun, die Sonne ist untergegangen, und dort hinten sehe ich die ersten Fackeln. Wollen wir hoffen, daß unsere Freunde genug Münzen dabeihaben.«

Der eine oder andere aus der Truppe spendete Beifall. Runold verstummte für einen Moment, dann stand er plötzlich direkt neben Hagen. »Komm, Freund Rabengott. Du kannst hier nicht sitzen bleiben. Wenn sie dich so sehen, wird nicht einmal der dümmste Bauer glauben, daß du der Herr aller Götter bist.«

»Was geschieht jetzt?« fragte Hagen und rang mit seiner Wut. Er wünschte sich nichts so sehr, wie aufzuspringen und Runold den Hals umzudrehen.

»Ihr wartet alle gemeinsam hinter dem Zelt. Die Leute kommen der Reihe nach dran. Sie bezahlen bei mir, sagen mir, mit welchem von euch sie sprechen wollen, und betreten das Zelt. Ich komme dann zu euch und führe den gewünschten Gott von hinten ins Zelt.«

»Klingt wie ein Kinderspiel.«

Runold gab einen kehligen Laut von sich. »Das ist es, mein Freund, das ist es.«

Während er sich widerwillig von Runold hinter das Zelt führen ließ, wo die anderen schon bereitstanden, fragte Hagen: »Wie lange tut ihr das schon, von Ort zu Ort ziehen und -«

»- den Leuten ihren eigenen Glauben verkaufen? Schon lange, sehr lange. Nichts ist so einträglich wie die Bereitwilligkeit der Leute, an etwas zu glauben.«

Runold ließ Hagen bei den anderen zurück und verschwand, um sich den herankommenden Dorfbewohnern zu widmen. Vorher flüsterte er Hagen noch zu: »Und sieh zu, daß du deine Raben dabei hast, wenn ich dich holen komme.«

Hagen hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er die Tiere herbeirufen sollte, und es war ihm auch gleichgültig. Längst hatte er sich vorgenommen, den ganzen Schwindel zunichte zu machen, sobald man ihn in das Zelt führte. Runold sollte wenig Freude an seiner neuesten Attraktion haben.

Die falschen Götter tuschelten miteinander, einige tauschten alberne Weisheiten aus, die sie vor den erwartungsvollen Dorfbewohnern zum besten geben wollten. Andere brachten ihre Hoffnung zum Ausdruck, man möge das Schauspiel schnell hinter sich bringen. Einer oder zwei schimpften auch auf Runolds Geiz und Gier, doch niemand pflichtete ihnen bei.

Hagen schwieg nachdenklich und bemühte sich, das allgegenwärtige Wispern des Flusses zu verdrängen. Er konnte die Nähe des Siebenschläfers fühlen, spürte seinen Haß und seinen Hunger. Hagen mochte Runolds Göttertruppe entkommen können, doch vor dem Rheingeist gab es keine Flucht.

Lärm riß ihn aus seinen Gedanken. Auf der anderen Seite des Zeltes wurden Stimmen laut. Vor allem eine, die einer jungen Frau, war deutlich aus den übrigen herauszuhören: »Betrüger!« schrie sie immer wieder. »Greift euch diesen elenden Scharlatan!« Hagen hoffte einen Augenblick lang, es sei Nimmermehr, doch die Stimme gehörte einer anderen.

Die Männer und Frauen, die mit Hagen hinter dem Zelt warteten, horchten auf. Die ersten wurden unruhig.

»Mögen uns die Götter beistehen!« Aus dem Mund der falschen Freija klang das einigermaßen bemerkenswert. Es schien keineswegs üblich zu sein, daß irgendwer den Betrug durchschaute.

Ein Rascheln ertönte, dann - schlagartig - das Fauchen emporschießender Flammen.

»Das Zelt brennt!« schrie jemand.

Hagen stolperte zurück, stieß gegen einige der anderen und stürzte. Niemand half ihm auf. Trampelnde Schritte rechts und links von ihm, aufgeregte Rufe. Innerhalb weniger Herzschläge stürmten die Männer und Frauen auseinander, einige fluchten und schrien, andere flohen stumm vor Entsetzen.

Immer mehr Dorfbewohner stimmten in die haßerfüllten Rufe der jungen Frau ein. Hagen war sich im klaren darüber, daß man ihn ebenso für einen Schwindler halten würde wie alle anderen. Ein aufgebrachter Pöbel, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihn aufzuknüpfen, hatte ihm gerade noch gefehlt.

Verzweifelt versuchte er sich aufzurappeln. Er spürte ganz in der Nähe die Hitze des Feuers, hörte sein prasselndes Lodern und Fauchen. Die Angst, blind in die Flammen zu stolpern, überkam ihn mit aller Macht. Zum ersten Mal seit Jahren rief er um Hilfe.

Aus dem Abgrund seiner Blindheit schoß etwas empor, traf ihn wie ein Blitz aus Helligkeit. Das Licht verblaßte so schnell, wie es gekommen war, doch ein ganz schwacher Abglanz blieb zurück.

Hagen erkannte, daß ein winziger Teil seiner Sehkraft zurückgekehrt war. Es war das gleißende Licht des Feuers, das sich durch die Schwärze fraß und ihn schlagartig an das erinnerte, was Nimmermehr gesagt hatte: Sein rechtes Auge würde wieder sehen können, früher oder später.