Der schwache Lichthauch war das erste Anzeichen. Es drängte Hagen, vor dem brennenden Zelt sitzen zu bleiben, geradewegs in die Glut zu starren, seinem Auge beim Gesundwerden zuzuschauen. Er riß sich freudig den Helm vom Kopf, schleuderte ihn unbeholfen von sich. Vor Begeisterung vergaß er einen Moment lang sogar die Gefahr, in der er sich befand. Er heulte auf vor Freude.
»Seht ihr den da vorne?« brüllte eine Stimme über das Inferno aus Prasseln und Getrampel hinweg.
Sehen. Ja, dachte Hagen, ich werde wieder sehen können. Schön, daß ihr es auch könnt.
Ein irres Lachen stieg in ihm auf, quoll über seine Lippen wie Erbrochenes, gallig, bittersüß.
Wieder versuchte er aufzustehen, wieder streifte ihn etwas, warf ihn mit tückischer Wucht zu Boden.
Hagen hob den Kopf. Das Feuer! Verdammt, wo war das Feuer? Einen Moment lang sah er nichts als Schwärze, wirbelte panisch hin und her, auf der Suche nach der Helligkeit, nach dem Gleißen, nach dem Licht in der Tiefe des Abgrunds.
Da! Da war es wieder! Ein vages Schimmern.
Hände packten ihn grob an den Oberarmen.
»Nein!« schrie eine Mädchenstimme.
Zugleich traf etwas seine Stirn, hart und grausam, und die Helligkeit, gerade erst wiedergefunden, verblaßte zum zweiten Mal.
Das Erwachen war eigenartig. Eigenartig, weil Hagen es nicht von sich aus bemerkte. Es gab keinen Wechsel von einem Dunkel ins andere. Da war nur Schwärze, ohne Abgrenzungen, ohne Schattierungen. Jemand hatte ihm einst erklärt, Schwarz sei keine Farbe, und jetzt erkannte Hagen mit plötzlicher Gewißheit, welche tiefere Wahrheit sich hinter dieser Behauptung verbarg. Schwarz beinhaltete nichts als sich selbst, es war nur ein Zustand vollkommener Leere. Hagen hätte tagelang darüber nachgrübeln können, ohne zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Schwarz war einfach nur - schwarz.
Erst als eine Stimme sagte »Er ist wach«, da wußte er, daß sich etwas verändert hatte. Um zu hören, mußte er wach sein.
»Gut, laßt ihn liegen.« Schritte, dann das Schlagen einer Tür. Das Schaben eines Riegels. Geräusche, die Hagen kannte; Geräusche der Gefangenschaft.
Seine Hände waren vor seinem Körper gefesselt. Er lag auf einem Boden aus Holzbohlen und verstreutem Stroh. Wahrscheinlich eine Scheune, die jetzt als Gefängnis herhalten mußte. Es roch nach Heu und Pferdedung.
»He da!« rief er. »Ist da wer?«
Niemand antwortete. Er fragte sich, wo der Rest von Runolds Truppe steckte. Einige waren sicher durch einen Sprung ins Wasser entkommen, doch wo waren die übrigen? Und was war mit Runold selbst geschehen?
Hagen rieb sich mit gebundenen Händen die Augen, doch die Dunkelheit blieb unverändert. Offenbar war sein rechtes Auge noch nicht gesund genug, um irgend etwas wahrzunehmen, daß weniger hell als eine Feuersbrunst war. Zudem herrschte in der Scheune sicherlich Finsternis. Kein Grund also, seine neugewonnene Hoffnung fahrenzulassen.
Hoffnung? durchfuhr es ihn bitter. In dieser Lage? Vermutlich wollte man nur bis zum Morgengrauen warten, um ihn am höchsten Giebel Zunderwalds aufzuhängen, mit oder ohne Augenlicht.
Ein leises Schaben zu seiner Rechten ließ ihn aufhorchen. Kurz darauf wiederholte es sich. Es klang, als würde eine Holzlatte in der Wand zur Seite geschoben.
»Ist da jemand?« fragte er noch einmal.
Einen Moment der Stille, dann:
»Hagen!« Ein Flüstern nur, ganz leise. »Hagen von Tronje!«
Er spürte, wie sich vor Aufregung Hitze in ihm breitmachte. »Nimmermehr, bist du das?«
»Wer sonst, Dummkopf?«
So, wie die Dinge standen, hätte sie alles zu ihm sagen dürfen, und er hätte sie noch dafür umarmt.
Er wandte den Kopf nach rechts und versuchte, sich mit dem Rücken an der Wand auf die Beine zu schieben. Zu spät bemerkte er, daß man seine Stiefel mit einem unterarmlangen Strick aneinandergebunden hatte; scheppernd fiel er zurück auf den Boden.
»Wo bist du?« fragte er beschämt.
»Ganz nahe bei dir.«
»Kannst du die Fesseln an meinen Füßen durchschneiden?«
»Ohne Messer?«
Ungeduldiger sagte er: »Dann sei so gut, und mach den Knoten auf.«
»Deine Hände sind frei. Warum machst du es nicht selbst?«
Und, tatsächlich: Noch während sie sprach, spürte er, daß der Strick an seinen Händen locker genug saß, um ihn mühelos abzuschütteln.
»Wie hast du das gemacht?« fragte er verblüfft, während er sich an seinen Fußfesseln zu schaffen machte.
»Wahrscheinlich waren die Knoten nicht fest genug angezogen«, antwortete sie ausweichend.
Er blieb beharrlich. »Eben waren sie noch fest.«
»Du mußt dich beeilen. Die Dorfbewohner können jeden Moment kommen, um dich zu holen.«
Sein rechter Fuß war frei. Jetzt noch der linke. »Was werden sie dann mit mir tun?«
»Dir einige Fragen stellen.«
»Folter?«
»Du hättest Runold sehen sollen, als sie mit ihm fertig waren.«
Er bekam den Knoten an seinem linken Knöchel auf und taumelte auf die Füße. »Was ist mit Runold?«
»Er ist tot.«
»Und die anderen?«
»Alle geflohen. Runold war der erste, den die Dorfbewohner fingen, ihm blieb keine Zeit mehr, um zu entkommen. Du hast am Feuer gekauert, als sie dich fanden. Die übrigen sind alle noch rechtzeitig in den Fluß gesprungen.« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Einige werden wohl heil ans andere Ufer gekommen sein.«
Hagen griff mit den Armen nach rechts ins Leere. »Verdammt, Nimmermehr, wo bist du?«
»Geh einfach geradeaus. Ja, genau so. Langsam. Jetzt streck die Hand aus.«
Seine Finger stießen gegen eine Seitenwand aus Holz, ertasteten eine schmale Öffnung. Kühle Luft wehte herein.
»Ich bin hier draußen«, flüsterte das Mädchen. »Der Spalt ist zu schmal für dich. Du mußt dich an der Wand entlang bis zur Tür vortasten. Ich kann sie von außen entriegeln.«
Er schob sich seitwärts ins Dunkel, in der Hoffnung, nicht über unsichtbare Gegenstände und Kisten zu stolpern. Es dauerte nicht lange, da erreichte er eine Ecke, und dann, kurz darauf, ein Tor. Der eine Flügel stand einen Spalt weit offen. Hagen fragte sich, weshalb Nimmermehr nicht einfach hereingekommen war. Doch der Gedanke verblaßte, als er ihre Hand an der seinen spürte. Hastig zog ihn das Mädchen ins Freie.
»Schnell«, wisperte sie. »Hier vorne können sie dich sehen. Wir müssen schleunigst ein Versteck für dich finden.«
»Können wir nicht einfach über die Brücke ans Ufer laufen?«
»Sie wird bewacht. Die Leute hier fürchten, die Gaukler könnten versuchen, euch zu befreien. Sie haben rund ums Dorf Wachen aufgestellt. Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit, als sich in Zunderwald selbst zu verkriechen.«
Eine Weile lang liefen sie stumm, dann streiften Zweige Hagens Gesicht. Nimmermehr hatte ihn in den Schutz einiger Bäume geführt.
»Beschreib mir das Dorf«, bat er. »Ich muß mir ein Bild davon machen.«
»Es ist nicht besonders groß, die Häuser sind fast alle aus Stein gebaut.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Warte, setz dich hin. Ja, genau da, hinter den gefällten Baumstamm. Im Augenblick bist du hier sicher.« Es knisterte, als sie sich neben ihm im Gras niederließ. »Also, die Häuser sind aus Stein, wohl wegen der Überschwemmungen. Einige sind bis zu drei Stockwerke hoch. Ganz oben bewahren die Leute bei Hochwasser ihre Sachen auf. Die Landzunge ist nicht besonders groß, und Zunderwald nimmt gerade mal die Hälfte davon ein. Aber die Gebäude sind eng aneinandergebaut, die Wege dazwischen verschachtelt und voller Steintreppen.« Sie nahm seine Hand und streichelte sie sanft mit ihren zarten Fingern. »Wir sind jetzt am Nordzipfel der Landzunge. Das Südende ist nicht bebaut, da wachsen nur ein paar einzelne Bäume. Dort unten war es, wo sie Runolds Zelt abbrannten.«