»Was für Leute leben hier?« fragte Hagen. »Ich meine, Runold war überzeugt, daß sie ihm glauben würden. Wieso ist sein Betrug gerade hier aufgeflogen?«
Nimmermehr lachte wie ein kleines Mädchen. »Ich fürchte, das war meine Schuld.«
»Aber die junge Frau, die die anderen aufgestachelt hat, hatte eine andere Stimme«, wandte er argwöhnisch ein.
»Das war die Tochter des Dorfvorstehers.« Nimmermehr schien kurz zu überlegen, dann sagte sie: »Ich konnte sie überzeugen, daß ihr keine echten Götter seid.«
»Du hast Runolds Zauber aufgehoben?«
»Zauber? Das nennst du Zauber?« Ungewohnte Verachtung sprach aus ihrer Stimme. »Liebe Güte, das war gar nichts. Runold war kein Magier, sonst wäre er jetzt nicht tot. Er hat die Gutgläubigkeit der Menschen ausgenutzt, ihre erbärmliche Torheit. Das war alles. Es gibt einen viel schlichteren Namen für diesen Zauber, wie du ihn nennst: Menschenkenntnis.«
Hagen packte blitzschnell ihre Hand wie ein lästiges Insekt. Er wußte, daß er zu fest zudrückte, aber wieder konnte er nichts anders, als ihr zu mißtrauen.
Hast du sie nicht eben noch herbeigesehnt? fragte es spöttisch in ihm. Sie hat dich schon wieder gerettet, und als Dank dafür tust du ihr weh.
»Du hast in Kauf genommen, daß die Dorfbewohner uns alle umbringen«, sagte er vorwurfsvoll und viel zu laut.
Sie legte sanft den Zeigefinger ihrer freien Hand an seine Lippen. »Leise, sonst hören sie uns.«
Schuldbewußt verstummte er, ließ sogar ihre Hand los. Sie zog sie nicht zurück, sondern streichelte weiter über seine Finger.
»Sie haben dich doch am Leben gelassen, nicht wahr?« sagte sie ruhig. »Und was Runold angeht, so hat er kaum etwas Besseres verdient. Wie sonst hätte ich dich denn aus seiner Gewalt befreien sollen? Er hat dich nicht aus den Augen gelassen, ich wäre nicht einmal an dich rangekommen. Hier im Dorf aber war das etwas anderes. Einen Scheunentor zu öffnen ist keine Kunst.«
»Die Raben«, entfuhr es ihm plötzlich, »das hast du getan, oder?«
»Nicht ich - der Mantel. Er hat die Macht dazu. Ich habe ihn von Morten gestohlen.«
»Ist er auch hier?«
Sie senkte ihre Stimme, als fürchtete sie, ihr Verfolger könne sie hören. »Er genießt die Gastfreundschaft des Vorstehers, ich habe sein Pferd vor dem Haus gesehen. Er muß kurz vor uns angekommen sein.«
»Woher wußte er, daß er dich hier finden kann?«
Sie klang traurig. »Ich weiß es nicht. Im Gegensatz zu Runold verfügt Morten tatsächlich über gewisse Kräfte.«
Hagen stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das heißt also, wir sitzen hier fest, in einem Dorf voller mordlustiger Verrückter und deinem Morten von Gotenburg mittendrin.«
»Ich fürchte, ja«, bestätigte sie kleinlaut.
»Und nun?«
Sie streichelte sachte seine Wange. »Ich habe gehofft, dir würde etwas einfallen.«
Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Er war hungrig und brauchte Schlaf, und es sah nicht aus, als würde sich daran in naher Zukunft etwas ändern. »Warum wurde Runold eigentlich gefoltert? Sie hätten ihn aufhängen oder an den Pranger stellen können - aber foltern? Das paßt nicht zu ein paar gewöhnlichen Bauern.«
»Die Tochter des Dorfvorstehers hat ihnen eingeredet, Runold verstecke einen Goldschatz.«
»Ein Schatz? Ich bitte dich, das ist lächerlich.«
»Vielleicht«, erwiderte sie, »vielleicht auch nicht.«
»Wo hätte er ihn denn verstecken sollen außer in der Satteltasche?« fragte Hagen lakonisch.
»Ich nehme an, diese Frage haben sie ihm ebenfalls gestellt.«
Hagen schüttelte fassungslos den Kopf. Noch immer verstand er nicht recht, welche Rolle Nimmermehr bei den Vorgängen gespielt und was es mit dieser Vorstehertochter auf sich hatte. Doch er hätte beide Fragen liebend gern unbeantwortet gelassen, wenn ihn das nur heil von hier fortgebracht hätte. Zumal er nicht den geringsten Einfall hatte, wie ihnen unter den gegebenen Umständen eine Flucht gelingen sollte. Und selbst dann war da immer noch der Mann, der es auf Nimmermehrs Leben abgesehen hatte.
»Wir könnten versuchen, an den Wachen vorbeizukommen und durch den Fluß zu schwimmen«, schlug Nimmermehr vor.
»Niemals.«
Sie nahm seine Rechte in beide Hände. »Du hast immer noch Angst vor dem Siebenschläfer?«
»Du hast ihn nicht erlebt. Du kennst ihn nicht und weißt nicht, wie -« Er brach ab, als er blitzartig etwas begriff. »Ich habe dir nie von ihm erzählt!« Mit einem scharfen Ruck riß er seine Hand zurück.
Nimmermehrs Stimme klang unverändert sanft und warm. »Nein«, gab sie zu, »das hast du nicht.«
»Wie -«, begann er, doch sie fiel ihm ins Wort:
»Ich kenne ihn, Hagen«, sagte sie ruhig. »Ich weiß viel mehr über ihn, als du glaubst.«
Woher? wollte er fragen, doch abermals kam sie ihm mit ihrer Antwort zuvor:
»Der Siebenschläfer ist der Wächter des Herbsthauses.«
Kapitel 6
»Das kannst du nicht tun, Vater!« brüllte Hagen, fuhr auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür.
Graf Adalmar war groß und schwer, aber er war auch weit schneller, als ihn sein behäbiger Leib erscheinen ließ. Innerhalb eines Atemzuges holte er Hagen ein und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige.
»Tu das nie wieder!« raunte er im Tonfall eines Todesurteils. »Erhebe nie wieder deine Stimme gegen deinen Vater, oder, das schwöre ich dir, du wirst nicht länger ein von Tronje sein.«
Hagen überspielte Schmerz und Furcht mit einem jugendlichen Trotz, den er selbst für Kühnheit hielt. »Bin ich das denn überhaupt noch? Warum sonst schickst du Dankwart als Knappen an den Hof des Königs, nach Worms, mich aber zu diesem... diesem...« Er verstummte, als ihm klar wurde, daß Tränen in seine Augen stiegen.
Sein Vater funkelte ihn zornentbrannt an. »Otbert von Lohe ist ein treuer Untertan des Königs, ein großer Krieger und ganz sicher jemand, von dem du vieles lernen kannst, mein Sohn.«
»Seine Grafschaft ist so groß wie unser Pferdestall.«
»Sein Lehen mag nicht das größte im Reich sein, aber ganz sicher eines der am besten geführten.«
Hagen versuchte vergeblich, dem Blick seines Vaters standzuhalten. Er schaute zu Boden, als er sagte: »Die Leute erzählen sich, er sei verrückt.«
Die Augen des Grafen weiteten sich. »Wer erzählt das?« brüllte er empört. »Nenne mir einen Namen, und ich schlage dem Kerl den Schädel ab!«
Hagen aber hielt seine Zunge im Zaum und schüttelte nur stumm den Kopf.
Dankwarts Stimme erklang von der anderen Seite der Halle. »Ich war es, Vater. Ich habe das gesagt.«
Adalmar gab Hagen einen Stoß, der ihn drei Schritte nach hinten taumeln ließ, und fuhr mit hochrotem Gesicht zu seinem Ältesten herum: »Du lügst! Du willst deinen Bruder in Schutz nehmen!«
»Nein, Vater«, sagte Dankwart leise. Auch er wagte nicht, dem Grafen in die Augen zu blicken. »Man hört viel Seltsames über Otbert von Lohe. Die Leute -«
»Die Leute?« schrie Adalmar und tobte wie ein Unwetter auf Dankwart zu. »Ihr seid die Söhne eines Grafen, und ihr hört auf die Leute!«
Hagen starrte zu Dankwart hinüber, der vor der heranstampfenden Masse seines Vaters schrecklich klein und schmächtig wirkte. »Vater!« rief Hagen dem Grafen nach, bevor er Dankwart erreichen konnte. »Warte, Vater! Entehre nicht auch noch deinen Ältesten. Mich schlage ruhig, wenn es dein Wille ist, aber füge Dankwart nicht solche Schmach zu. Er ist der Erbe deines Hauses!«