Denn eine Festung war es wohl, mehr noch als die Burg derer von Tronje. Dies war das Heim eines Kriegers, ganz ohne Zweifel. Hoch und mächtig überschauten drei Türme das Land am Fluß, und die Mauern waren dick genug, um einem Ansturm der Götter selbst standzuhalten (so wenigstens erschien es Hagen, der in seinem Leben erst zwei Burgen gesehen hatte, und diese war eine davon).
Auf dem Hof herrschte reges Treiben. Krieger putzten im Licht der Abendsonne ihre Waffen, Pferde wurden abgebürstet, Mägde balancierten Krüge und Körbe von den Nebengebäuden ins Haupthaus. Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft. Otbert von Lohe wollte seinen neuen Schützling mit einem Festmahl willkommen heißen.
Der Graf trat ihnen persönlich entgegen, in seinem Gefolge seine Gemahlin Laurine, seine älteste Tochter Malena und die Jüngste Nane. Am Burgbrunnen in der Mitte des Hofes trafen sie aufeinander.
Otbert war ein großer Mann, breit wie Hagens Vater, wenngleich ein wenig rundlicher um die Hüften. Man sah ihm an, daß es eine Weile her war, seit er zum letztenmal in die Schlacht gezogen war. Seine Züge aber waren hart und unbeugsam, das Haar schlohweiß. Als er lächelte, sah Hagen, daß dem Grafen ein Schneidezahn fehlte.
Seine Frau Laurine war zweifellos einst ein schönes Weib gewesen, mit wallendem graugoldenem Haar, und was das Alter ihr an Schönheit abgefordert hatte, hatte es ihr an Würde und Stolz hinzugegeben. Sie war schlank und hochgewachsen und verbreitete Anmut mit jedem ihrer Schritte. So ganz anders war sie als Hagens Mutter, die die Jahre an Adalmars Seite in die Arme eines Pfaffen getrieben hatten. Laurine trug ein rotes, enganliegendes Kleid und einen braunen, silberdurchwirkten Überwurf. Ihr langes Haar war mit mehreren Goldspangen hochgesteckt. Ihr Blick war gütig und voller Wärme.
Was die beiden Töchter anging - nun, Nane war zu jung, um irgendeinen Eindruck bei Hagen zu hinterlassen; sie hatte höchstens vier Sommer gesehen. Malena aber war in Hagens Alter, vielleicht ein wenig jünger. Sie war schlank und anmutig wie ihre Mutter, ihr weißblondes Haar war mit Silberfäden zu einer Unzahl langer Zöpfe geflochten. Ihr Gesicht war schmal, der Mund klein und von bezaubernder Röte. Rot aber waren auch ihre Augen, und das war das Eigenartigste, das Hagen je an einem Menschen beobachtet hatte - Malena hatte tatsächlich leuchtend rote Augen wie ein Wolfshund in der Nacht. Malenas Haut war von einem zarten Weiß, so rein wie Milch, nur klarer, fast durchscheinend. Der Eindruck unbeschreiblicher Schönheit und der Hauch des Gespenstischen überlagerten sich in ihrer Erscheinung.
Graf Otbert hieß sie willkommen, erst förmlich, ganz dem höfischen Zeremoniell entsprechend, dann mit Schulterschlag und lautem Gelächter. Jeder, auch die niedersten Krieger in Hagens Gefolge, erhielten einen heftigen Handschlag und den überschwenglichen Dank, daß sie Adalmars Sohn sicher hergebracht hatten. Sie sollten am Abend gemeinsam mit der ganzen Burg feiern, ausschlafen und sich erst am nächsten oder gar übernächsten Tag auf den Heimweg machen, ganz wie es ihnen beliebte. Die Krieger waren sichtlich von soviel Freundlichkeit angetan, und Hagen begriff, daß dies bereits seine erste Lektion war: Sei immer gut zu jenen, von denen dereinst dein Leben abhängen mag.
Auch die Gräfin nahm Hagen in den Arm wie die Mutter, die sie ihm für die nächsten Jahre sein wollte. Die kleine Nane kicherte und schaute zu Boden, als Hagen ihr zur Begrüßung über das helle Blondhaar strich, während Malena, die schöne, geheimnisvolle Malena, ihm einen Blick aus ihren roten Augen schenkte, der ihn bis ins Mark erschauern ließ; es war ein wohliger Schauer, der für Hagen eine gänzlich neue Empfindung bedeutete. Er beschloß, daß es ihm in der Burg derer von Lohe gut gefiel, ja, nun war er seinem Vater sogar dankbar für die Entscheidung, ihn hierher zu schicken. Die Menschen begegneten ihm großherzig und voller Freundschaft, und die Mauern der Festung waren so hoch und standhaft, daß nicht einmal der Rhein ihnen etwas anzuhaben vermochte. Ein glühendes Hochgefühl machte sich in Hagen breit, und für eine Weile vergaß er sogar seinen Pakt mit dem Flußgeist.
Gräfin Laurine führte ihn in sein Gemach, eine großzügig angelegte Kammer mit Ausblick auf die bewaldeten Berge. Im stillen war Hagen dankbar, daß er von hier aus nicht auf den Rhein sehen mußte. Es bestärkte ihn nur in dem Glauben, daß sein Geschick sich jetzt zum Guten wenden würde.
Während ihres Weges durch die steinernen Flure der Burg war Nane fröhlich hinter ihnen dreingesprungen. Jetzt erst fiel Hagen auf, daß auch sie rote Augen und schneeweiße Haut hatte; wenn auch nicht so stark ausgeprägt wie bei ihrer älteren Schwester.
Zu Hagens Enttäuschung war Malena nach der Begrüßung verschwunden. Er hoffte sehr, er würde sie später beim Festmahl wiedersehen.
Laurine ließ ihn eine Weile allein, damit er sich frischmachen und die staubige Reisekleidung ablegen konnte. Hagen warf sich langgestreckt auf sein Lager - es war hart und erstaunlich ungemütlich nach all der Behaglichkeit, aber ihm dämmerte gleich, daß auch dies auf Otberts Veranlassung geschehen war. Der Graf wollte gar nicht erst davon ablenken, daß Hagen vor allen Dingen hier war, um die Erziehung eines Kriegers zu genießen. Es war üblich, daß ein Junge von Adel solch eine Lehre nicht am elterlichen Hof genoß, sondern in der Fremde, wo, so nahm man an, seine besten Tugenden zutage treten würden.
Er war wohl eingeschlafen, als es an der Tür klopfte, und eine Kammerzofe ihm mitteilte, daß es an der Zeit für die Feierlichkeiten sei.
Hagen dankte ihr, kleidete sich um und machte sich frohgemut auf den Weg, um an der Tafel seiner neuen Familie die eigene Ankunft zu feiern.
Drei Tage vergingen. Tage voller Lehrstunden im Umgang mit Waffen, Rüstzeug und den ersten Grundzügen der Kriegsführung. Otberts Stallmeister zeigte sich erfreut, wie geschickt Hagen im Umgang mit Pferden war und welch große Geduld er bei der Pflege der Tiere zeigte. In ihm hatte Hagen schnell seinen ersten Fürsprecher und väterlichen Freund gefunden.
Was den Schwertkampf anging, so entdeckte der zuständige Lehrmeister, ein düsterer Ritter mit Namen Adalwig, zahlreiche Mängel in Hagens Fertigkeiten - kein Wunder, denn daheim war der Junge nur oberflächlich in die Kampfkunst eingewiesen worden. Adalwig versicherte Hagen jedoch mit finsterer Miene, daß er die feste Absicht habe, solche Schwächen schnell zu beheben. Hagen stellte sich notgedrungen auf harte Übungsstunden ein.
Die Gräfin selbst prüfte eingehend Hagens Manieren, sein Benehmen bei Tisch und - zu seiner Verblüffung und ihrer Erheiterung - seine Stimmgewalt. Hierzu verlangte sie ihm allerlei Lieder ab, die er krächzend und falsch für sie zum besten gab. Er schämte sich sehr, als sie wie unter Schmerzen das Gesicht verzog, doch gleich darauf brach sie in helles Gelächter aus, umarmte ihn herzlich und lobte ihn über alle Maßen für seine Bereitwilligkeit, seine Fertigkeiten zu schulen. Bald schon war Hagen gewiß, daß Laurine ihm eine bessere Mutter sein würde, als seine eigene es je gewesen war. Er begann sich zu wünschen, nie mehr von hier fortgehen zu müssen.
Graf Otbert sah er während der ersten drei Tage nur zum Essen, das die Familie gemeinsam an einer großen Eichentafel einnahm. Bei diesen Gelegenheiten warf Hagen immer wieder verstohlene Blicke zu Malena hinüber, die ihm jedesmal ein glutäugiges Lächeln schenkte.
Schließlich, am späten Abend des dritten Tages, klopfte es an Hagens Kammertür. Helles Mondlicht erhellte die Fensterscheibe aus dickem, trübem Glas, ein Nachtvogel schrie in den Wäldern. Hagen hatte bereits geschlafen und brauchte einen Moment, ehe er begriff, daß jemand Einlaß begehrte.
Das Klopfen wiederholte sich, ungeduldiger diesmal. Hagen zog sein langes Nachthemd zurecht und rief: »Ja, bitte?«