»Kann denn ein Pfeil bis zum Himmelszelt fliegen?« fragte Hagen verwundert.
»Diese hier schon.« Otbert griff stolz zum Köcher und zog einen zweiten Pfeil hervor. »Ich habe sie von einem alten Waffenmacher anfertigen lassen. Es sind die besten und zielsichersten Pfeile, die die Welt je gesehen hat. Ich habe noch nie ein Ziel damit verfehlt.«
»Dann sind es magische Pfeile?«
»Mir jedenfalls scheinen sie so. Der Mann, der sie hergestellt hat, ist lange tot, und jene in meiner Waffenkammer sind die letzten aus seiner Werkstatt. Ich benutze sie nur noch, um den Mond damit zu verletzen, zu nichts anderem.«
»Aber wenn sie nie fehlgehen, wäre es dann nicht gut, sie zur Jagd zu verwenden?«
Otberts Züge verhärteten sich, als er abermals auf den Vollmond zielte. Einen Augenblick später schien auch der zweite Pfeil im Zentrum des Mondlichts zu verglühen.
»Keine Jagd ist wichtiger als die auf den Mond«, sagte der Graf voller Überzeugung, während er schon zum dritten Pfeil griff. »Kein Krieg ist nötiger. Kein Kampf ehrenvoller. Töte den Mond, und du tötest den Feind jedes Menschen.«
»Aber wenn ihn all Eure Pfeile nicht zerstören können, was bleibt da noch für eine Möglichkeit?«
»Es gibt nur den nächsten Versuch. Und den übernächsten. Und den darauf. Immer und immer wieder.« Otbert lächelte kühn. »Irgendwann werde ich ihn besiegen.«
Pfeil um Pfeil schoß er nun zum Mond empor, und vom Turm aus sah es tatsächlich aus, als treffe jeder genau ins Ziel.
Hagen brauchte eine Weile, ehe er all seinen Mut gefaßt hatte und fragte: »Habt Ihr je versucht, einen Faden an einen Eurer Pfeile zu binden?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Um gewiß zu sein, daß sie ihr Ziel wirklich erreichen.«
Otbert dachte nach. »Welcher Faden könnte so lang sein?«
Eine berechtigte Frage, gestand Hagen sich ein, und schalt sich selbst einen Esel für seinen dummen Vorschlag.
Fortan schwieg er und sah zu, wie Otbert seinen Köcher leerte.
Schließlich, zwischen zwei Schüssen, sagte der Graf: »Du kannst jetzt zurück in deine Kammer gehen, Junge. Deine Lektion ist für heute beendet.«
Darauf verabschiedete sich Hagen geschwind und kletterte durch die Falltür. Von unten blickte er noch einmal zu dem Krieger hinauf, sah zu, wie Otbert einen Pfeil nach dem anderen in den Himmel schoß, um jedesmal genüßlich den Mund zu verziehen, wenn er seinem Erzfeind gefiederten Stahl in den Glutleib jagte.
Bald schon setzte das Vergessen ein.
Hagen ging nicht mehr hinab zum Ufer, er wurde die meist Zeit im Innenhof der Festung geschult. Die Ausritte an der Seite des Stallmeisters führten ihn tiefer ins Hinterland der Burg, durch die Weinberge und grünen Hügel, über ihre Gipfel und Kämme hinweg auf die andere Seite. Wenn er aus dem Fenster seiner Kammer sah, dann blickte er hinaus auf die Wälder, nicht auf den Fluß, und kaum jemand, mit dem Hagen zu tun hatte, erwähnte den Strom am Fuße des Felsens, kaum jemand ging gar selbst dort hinunter. In der Burg galt der Rhein kaum mehr als jedes Weizen- oder Rübenfeld, man labte sich nicht an seinem Anblick und überließ es den Fischern, seine Schätze zu bergen.
So kam es, daß Hagens Furcht vor dem Fluß in immer weitere Ferne rückte. Es war aber kein völliges Vergessen. Hagen entsann sich sehr wohl seiner Abmachung mit den Wasserfrauen, des Tributes, den sie verlangt hatten - und ihrer Drohung. Doch je länger sein letztes Opfer zurücklag, desto diffuser wurde auch seine Erinnerung daran. Er schob seine Ängste von sich, fühlte sich in der Burg sicher und geborgen, und obgleich er sich sagte, es müsse bald an der Zeit für ein neues Goldopfer sein, so ließ er doch den rechten Zeitpunkt verstreichen.
Ein voller Mond verging, ohne daß Hagen sich an seinen Handel mit den Wasserfrauen hielt, ein zweiter brach an, und nichts geschah. Keine Racheengel mit Gesichtern aus Wasserstrudeln, keine zürnenden Geister, die über ihn und die seinen kamen. Hagen gewann die Gewißheit, daß ihm der Fluß nichts mehr anhaben konnte, seit er ihn mied. Die Worte der Wasserfrauen waren nichts als leere Drohungen gewesen.
Der dritte Mond ging über der Burg auf, und Hagen glaubte allmählich sicher sein zu dürfen, daß Malena seine Zuneigung erwiderte. So faßte er sich schließlich ein Herz und bat sie scheu um einen gemeinsamen Ausritt. Malena tat, als überlege sie einen Augenblick, dann stimmte sie zögernd zu. Nicht gerade stürmisch, dachte Hagen, aber das mochte in ihrer zarten Natur liegen. Es war völlig unmöglich, sich dieses verletzliche Geschöpf in einem Zustand von Euphorie oder nur verhaltenem Jubel vorzustellen. Ihr ganzes Wesen war leise und zurückhaltend, lautlos waren sogar ihre Schritte, und oft stand sie ganz unvermittelt neben einem, ohne daß man ihr Nahen bemerkt hätte.
An einem Herbstnachmittag, gegen Ende seines dritten Mondes in der Burg, sattelte Hagen ihre Pferde, und wenig später schon ritten sie Seite an Seite durch die rotgelbe Pracht der Wälder. Malenas Mutter hatte den Ausflug gestattet und den beiden sogar zugestanden, auf Wachen zu verzichten. Sie nahm wohl an, daß die zarte Malena über genügend innere Stärke verfügte, den Schmeicheleien des stürmischen Hagen zu widerstehen.
Sonnenstrahlen fielen durch das Laubdach der Wälder, während sich die beiden langsam von der Festung entfernten. Malena wurde mit jedem Schritt, der sie von der Burg fortbrachte, gesprächiger. Das Herbstlicht färbte das Weiß ihrer Wangen golden und ließ sie gesünder als sonst erscheinen. Sie gestand Hagen, daß sie bislang das Sonnenlicht gemieden habe, ohne besonderen Grund, einfach so, daß sie nun aber froh sei, es an seiner Seite wiederzuentdecken.
Hagen schmeichelte das sehr, obgleich er sie nicht wirklich verstand - vielleicht war er bereits zu sehr Krieger, um die feinsinnigen Empfindungen junger Edeldamen nachzuvollziehen. Sein Blick hing gebannt an Malenas Lippen, an ihrem Körper, der hellen Schimmerflut ihres Haars. Während sie über die Schönheit der Bäume sprach und über die Tatsache, daß diese Schönheit doch nur verschleiere, daß gerade ein großes Sterben - das des Laubes - im Gange war, hatte Hagen nur Augen für sie selbst. Freilich, wenn sie auf einen besonders schön gefärbten Baum wies, dann folgte sein Blick ihrem Wink, doch in Wahrheit sah er dabei nicht den Baum, sondern nur Malenas Elfenfinger.
Er ertappte sich dabei, daß er die meiste Zeit über schwieg und einfach nur lauschte, was sie zu sagen hatte. Er genoß, wie sie aus sich herausging, Schale um Schale ihrer Zurückhaltung abwarf und ihm einen Blick auf die wahre Malena gestattete, ein aufgewecktes, auf seine Art sogar heiteres Mädchen, das sich - vielleicht aufgrund der Vorurteile anderer - freiwillig in ein Gefängnis der Stille und Weltflucht zurückgezogen hatte. Hagen nahm sich insgeheim vor, ihr bei der Befreiung aus diesen Fesseln zu helfen - falls sie seine Hilfe annehmen wollte.
Es dämmerte bereits, als sie beschlossen, zur Burg zurückzukehren. Malena schien ein wenig erschrocken, als ihr klar wurde, wie spät es bereits war, und Hagen hatte ein schlechtes Gewissen; er hatte den heraufdämmernden Abend sehr wohl bemerkt, jedoch nichts gesagt, um das Zusammensein mit Malena so lange wie möglich auszudehnen.
»Werden deine Eltern wütend sein?« fragte er.
»Mutter nicht«, erwiderte Malena und hieb ihrem Pferd die Fersen in die Flanken, »aber bei Vater kann man nie sicher sein.«
Das hatte Hagen befürchtet, und es machte ihn bange. Bislang war er von Otberts Zorn verschont geblieben, doch er hatte von anderen gehört - vor allem von den Stalljungen -, daß die Wutausbrüche des Grafen das Ausmaß von Unwettern annehmen konnten. Wer sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte, den trafen sie mit schrecklicher Gewalt.
Da sagte Malena: »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde sagen, wir hätten uns verirrt. Ich bin so selten hier draußen, daß mir jeder glauben wird, wenn ich behaupte, ich hätte mich nicht mehr an den rechten Weg erinnert.«