»Ich habe keine Angst«, empörte sich Hagen.
»Natürlich nicht.«
»Glaubst du mir nicht?«
»Oh, sicher doch. Du hast bestimmt keine Angst.«
Er wußte, daß sie ihn ärgern wollte, und sogar daran erfreute er sich. Wer hätte gedacht, daß Malena ihm einmal solche Aufmerksamkeit entgegenbringen würde?
Als sie den Hügelkamm erreichten, von dem aus sie die Burg sehen konnten, war es beinahe dunkel geworden. Die laue Wärme des Tages wich, und die Kälte der Nacht kroch aus ihren Verstecken hervor.
»Es wird windig«, sagte Malena und raffte ihren Mantel enger um den zerbrechlichen Leib.
Hagen nickte zustimmend. In Wahrheit aber schien es ihm, als sei der Wind nicht ganz so plötzlich aufgekommen, wie Malena glaubte - vielmehr vermeinte er, der Wind habe vor ihnen auf sie gewartet. Schon von weitem hatte er gesehen, wie sich rund um die Burg die Baumkronen beugten, lange bevor Malena und er etwas davon zu spüren bekamen.
Malena war mit einemmal beunruhigt. »Was ist da los?« fragte sie verunsichert und deutete voraus zur Festung.
Finster hob sich das Gemäuer vom Abendrot ab. In keinem der Fenster brannte Licht, als hätte der Wind alle Fackeln ausgeblasen.
Malena wollte ihr Pferd erneut zum Galopp antreiben, doch Hagen stellte sich ihr in den Weg. »Laß mich vorausreiten«, sagte er und gab sich Mühe, seinen Zügen Entschlossenheit zu verleihen.
»Warum?« Ihre Stimme war eine Spur zu schrill. Ein Anflug von Panik schwang darin mit, in ihren roten Augen glomm ein zorniger Funke. »Weshalb sollte das nötig sein?«
Hagen verkniff sich eine Erklärung und sagte noch einmaclass="underline" »Laß mich erst nachsehen. Bitte, Malena, warte hier auf mich.«
Ihr Pferd tänzelte, als es von der Unruhe seiner Herrin angesteckt wurde. Plötzlich trat Malena dem Tier in die Seiten, so daß es einen gewaltigen Satz nach vorne machte. Hagen konnte sein eigenes Pferd gerade noch zur Seite reißen, da sprengte Malena auch schon an ihm vorüber. Mit wehendem Kleid und flatterndem Umhang raste sie den Hügel hinunter, durch die Weinberge und auf die Burg ihrer Väter zu.
Hagen brüllte ihr hinterher, sie möge stehenbleiben, dann trieb er fluchend sein Tier zum Galopp. Im Abstand von zehn Mannslängen jagte er hinter ihr den Weg hinab, umwabert vom Rot der Abenddämmerung.
Als sie die Kluft rund um die Burg fast erreicht hatten, da war es Hagen, als höre er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Flüstern der Strömung, tief unten aus dem Tal herauf. Sie klang nicht länger verspielt oder höhnisch. Jetzt loderte eine Wut in ihr, die verzehrender war, als jede, die ein Mensch hätte fühlen können.
Da wußte Hagen, daß er Malena verlieren würde, wenn er sie nicht vor der Zugbrücke aufhielt.
Gellend rief er ihren Namen, doch sie dachte gar nicht daran, ihr Pferd zum Stehen zu bringen. Die Hufe wirbelten Schmutzfontänen auf, Schweif und Mähne wehten genauso wie Malenas weißblondes Haar. Noch zwanzig Schritte, dann war sie an der Kluft. Die Zugbrücke war heruntergelassen und unbewacht. Das hohe Tor dahinter klaffte schwarz wie ein schreiender Schlund.
Hagen trieb sein eigenes Pferd zu noch größerer Eile an. Aber er erkannte auch, daß es zu spät war, um Malena jetzt noch einzuholen. Das Mädchen preschte über die Zugbrücke, mit einer Entschlossenheit, die er ihr nicht zugetraut hätte. Augenblicke später war sie im Dunkel der Burg verschwunden.
Hagen schloß die Augen und folgte ihr blindlings. Er wußte genau: Was hier geschehen war - und noch geschehen würde -, war ganz allein seine Schuld. Wenn es eines gab, das er noch tun konnte, so war das, Malenas Leben zu retten.
Der Innenhof war menschenleer. Spuren aus Nässe und Wasserlachen trafen sich sternförmig in seiner Mitte, dort wo der alte Burgbrunnen stand. Was auch immer geschehen war, es hatte dort seinen Anfang und sein Ende genommen.
Malena stieg vom Pferd. »Mutter!« schrie sie laut zu den finsteren Gebäuden hinüber. »Vater!« Ihre Stimme hallte schrill von den Steinwänden wider.
Keiner gab Antwort.
»Wo seid ihr alle?« Malenas Gesicht war eine Maske der Verzweiflung. Sie fuhr zu Hagen herum, blickte ihm entgegen, als er durch den Torbogen preschte. »Was ist denn nur passiert?« Es klang flehentlich, als könnte Hagen das Unaussprechliche ungeschehen machen.
Auch er sprang vom Pferd, lief auf sie zu. Die beiden Tiere wieherten schrill, als hätten sie in den Schatten etwas wahrgenommen. Plötzlich warfen sie sich herum und galoppierten in heilloser Panik aus dem Tor. Hagen und Malena blieben allein auf dem verlassenen Burghof zurück.
»Ich weiß es nicht«, log er im Näherkommen. »Aber wir müssen hier weg!«
»Weg?« Ihre Züge bebten, Tränen flossen über ihre Wangen. Auch Hagen begann zu weinen.
»Sie müssen doch irgendwo sein«, schluchzte Malena.
Schlagartig drehte sie sich um und rannte quer über den Hof zum Haupthaus. Die doppelflügelige Tür stand offen.
Diesmal aber war Hagen schneller. Er erreichte sie, bevor sie in den Schatten des Hauses trat, riß sie zurück, hielt sie fest.
»Was immer das getan hat«, keuchte er atemlos, »es ist bestimmt noch in der Nähe.«
»Das was getan hat?« brüllte sie ihn an. Es war der Moment, in dem sie begriff, daß er mehr wußte, als er zugeben wollte.
»Sie sind fort, das siehst du doch«, gab Hagen zurück. Malena versuchte sich loszureißen, doch er hielt sie eisern fest und verachtete sich dafür. Es war, als täte er ihr Gewalt an.
»Ich will nachsehen!« schrie sie ihn an - und stieß zugleich das Knie vor!
Hagen wurde im Unterleib getroffen, bekam einen Moment lang keine Luft mehr und löste seinen Griff um ihre Arme. Malena schwankte erschöpft herum, stürmte weiter zur Tür.
»Nicht!« schrie Hagen hinter ihr her, doch abermals sah er sie im Dunkel verschwinden.
Er nahm all seine Kraft zusammen und taumelte hinter ihr auf das Haupthaus zu, der aufgerissenen Doppeltür entgegen. »Malena!« rief er immer wieder. »Malena!«
Sie aber gab keine Antwort. Er hört ihre leichten Schritte in den fernen Gängen, den Hall ihres Atems, ihre Rufe nach Mutter und Vater und anderen Vertrauten.
Doch als er selbst in die Finsternis des Gemäuers trat, da verstummten die Laute. Keine Schritte mehr, kein Atem, keine Rufe.
Verzweifelt lief er in die Richtung, aus der die Geräusche zum letzten Mal erklungen waren. Überall auf den Gängen, auf Treppenabsätzen und in den verlassenen Hallen traten seine Füße in Wasserpfützen. Er riß eine der erloschenen Fackeln aus ihrer Halterung, um sie als Knüppel zu benutzen; sie triefte vor Nässe. Es war so finster, daß er kaum mehr sehen konnte, wohin er seine Füße setzte, aber es war nicht die Dunkelheit, die ihm solche Furcht einjagte.
Immer wieder rief er Malenas Namen, doch sie antwortete nicht. Fast blind vor Tränen lief er durch die Festung, stieß Türen auf, blickte Treppenfluchten hinab, schrie in jeden Saal, in jede Kammer.
Es dauerte lange, ehe er sich die Wahrheit eingestand.
Malena war fort wie all die anderen.
Seine taumelnde Suche brachte ihn irgendwann zurück zum Eingang des Haupthauses. Durch Tränenschleier blickte Hagen nach draußen. Der Vollmond war aufgegangen und überzog den Innenhof mit silbrigem Glanz.
Am Rande des Brunnens standen drei Gestalten. Eine von ihnen hielt einen leblosen Körper im Arm.
Hagen kämpfte gegen seine Erstarrung an, trieb sich selbst unter Aufbietung aller Kräfte vorwärts. Die Fackel fiel aus seiner Hand, polterte zu Boden. Er brauchte sie nicht mehr.
»Was... was habt ihr getan?« stammelte er mit erstickter Stimme.
Die drei Wasserfrauen blickten ihm stumm entgegen. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln, obgleich da nichts war, das den Schatten hätte werfen können. Eine von ihnen stand hoch auf der Ummauerung des Brunnens, sie trug die reglose Malena in den Armen. Die beiden anderen standen rechts und links von ihr am Boden.