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»Bitte!« flehte Hagen. »Tut ihr nichts! Sie will doch niemandem etwas Böses!«

Der Mond spiegelte sich in der Wasserlache, die sich rund um die Frauen angesammelt hatte. Sein Abbild erbebte, als eine von ihnen mit einem grotesk weiten Schritt auf die Brüstung trat. Die letzte tat es ihr gleich, dann standen sie alle auf der Mauer, ihre Rücken dem Brunnenschacht zugewandt.

»Bitte!« rief Hagen noch einmal. »Ich tue alles, was ihr verlangt. Es muß Gold in der Burg geben, viel Gold. Der Fluß kann es haben. Aber, bitte, laßt mir Malena!«

»Gold«, wiederholte eine der Frauen abfällig. Es klang, als speie sie ihm vor die Füße.

Jene, die Malena hielt, drehte sich um und machte einen Schritt in den Brunnen, als sei dort eine unsichtbare Treppe, die in die Tiefe führte. Stufe um Stufe verschwand die Kreatur mit ihrem Opfer im Schacht.

»Nein!« Hagen hörte sich selbst wie einen Fremden aufschreien. Er stürmte vor, bereit, mit bloßen Händen auf die Wasserfrauen loszugehen. Er würde nicht zulassen, daß sie Malena forttrugen wie all die anderen!

Die erste Frau war schon im Abgrund des Brunnens versunken, die zweite folgte ihr. Jene aber, die noch auf der Ummauerung stand, hob eine Hand und streckte sie Hagen in einer herrischen Geste entgegen.

»Sie ist tot«, peitschte ihre Stimme über den Hof. »Alle sind tot.«

Wenige Schritte vor dem Brunnen kam Hagen zum Stehen.

Die letzte Wasserfrau wandte sich um, stieg in die Tiefe. Noch einmal drehte sie ihr Gesicht zu ihm um, das lange Haar öffnete sich wie ein Vorhang, die Schatten verdampften - zu kurz, als daß sie ihr Geheimnis offenbart hätten.

Hagen wandte die Augen ab. Stumm brach er zusammen, nicht bewußtlos, aber bar jeden Lebensmutes.

Die Frau folgte ihren Schwestern ins Dunkel.

Hagen hob das Gesicht. Der Hof lag leer im Mondlicht.

Als endlich der Morgen dämmerte, stolperte der Junge auf die Beine, suchte im Haus nach Waffen, nach Rüstzeug und Langbogen, fand Otberts Mondpfeile in der Waffenkammer und rüstete sich wie ein Krieger. Dann trat er aus dem Tor, wanderte hinaus in die Berge. Zurück blieben der Brunnen, die Brücke, die Burg. Seine Jugend.

Kapitel 7

»Der Siebenschläfer ist der Wächter des Herbsthauses«, sagte Nimmermehr und zog ihre Finger von Hagens Hand zurück.

Es war das letzte, das er für lange Zeit von ihr hörte. Als er seinen Schrecken überwunden hatte und sie ansprach, gab sie keine Antwort mehr. Seine Hände tasteten blind ins Leere. Nimmermehr war fort. Er hatte nicht einmal gehört, wie sich ihre Schritte entfernten.

Einen Moment lang überkam ihn nacktes Grauen. Die Schwärze schien von allen Seiten nach ihm zu greifen, ihn in ihren Abgrund zu ziehen, hinab zu dem Ding, das darin lauerte.

Dann aber riß er sich zusammen und dachte nach. Das Herbsthaus. Es war an der Zeit, daß er erfuhr, was es damit auf sich hatte. Doch viel dringender schien ihm, die Wahrheit über Nimmermehr zu erfahren. Über ihre Ziele. Über das, was sie vom Siebenschläfer wußte.

Wohin war sie verschwunden? Warum wich sie seinen Fragen aus?

Wer war sie überhaupt?

Hagen stemmte sich an dem gefällten Baumstamm auf die Beine. Seine Lage war hoffnungslos. Er war blind, allein, unbewaffnet und wurde von einer Meute Verrückter gejagt.

Das Vernünftigste wäre gewesen, sich wieder hinzusetzen und ergeben auf den Tod zu warten. Aber es war nicht die Vernunft, die ihn antrieb. Sie am allerwenigsten.

Er stand still, hielt den Atem an und versuchte, sich zu orientieren. Nimmermehr hatte gesagt, er befände sich am Nordende der Landzunge, unweit des Dorfes. Seine Ohren sagten ihm, daß der Fluß vor ihm strömte, ebenso rechts und links. Dann mußten die Häuser hinter ihm liegen.

Wenn er sich so nahe am Wasser befand, wo waren dann die Wächter, von denen Nimmermehr gesprochen hatte? Mußten sie ihn nicht unweigerlich entdecken, wenn er sich von dem Baum entfernte?

Stimmen wurden hinter seinem Rücken laut. Mehrere Männer, die näher kamen.

Hagen ließ sich fallen und rollte unter den gefällten Baumstamm, der ein leidlich gutes Versteck abgab. Er schloß die Augen - als ob das einen Unterschied machte! - und lauschte.

Jemand fluchte, ein anderer stieß ein gedämpftes »Nun seht euch das an!« hervor. Sie waren noch zu weit entfernt, um Hagen entdeckt haben zu können - wenigstens redete er sich das ein. Allmählich kamen ihre Schritte näher, jetzt viel schneller. Sie rannten an seinem Versteck vorbei, ohne ihn zu bemerken, weil irgend etwas anderes ihre Aufmerksamkeit beanspruchte.

Er hörte, wie sie stehenblieben, unweit des Ufers.

»Sind sie tot?« fragte einer.

»Nein«, erwiderte ein anderer. »Bewußtlos.«

»Der Hundsfott muß sie niedergeschlagen haben.«

»Ich seh’ keine Wunden. Aber ihre Gesichter...«

»Als wäre ihnen der leibhaftige Satan erschienen«, stöhnte jemand.

Sie haben irgendwen gefunden, dachte Hagen. Und dann durchfuhr ihn die Erkenntnis: Das konnten nur die Wächter sein. Offenbar lagen sie ohne Bewußtsein am Ufer, mußten dort schon gelegen haben, während er mit Nimmermehr sprach.

»Der Kerl ist ins Wasser gegangen«, sagte einer der Männer. »Er hat sie von hinten überrumpelt und ist dann an Land geschwommen.«

»Dann kriegen wir ihn nicht mehr.«

»Was soll’s«, meinte einer ergeben. »Der war sowieso blind. Außerdem liegt das Gold sicher beim Vorsteher.«

Den Geräuschen nach machten die drei sich an den Bewußtlosen zu schaffen. Ohrfeigen ertönten, dann leises Stöhnen. Wasser klatschte irgendwem ins Gesicht.

»Sieht aus, als müßten wir sie tragen.«

»Verfluchter Mist!«

»Ich hätte den Kerl gern brennen sehen.«

»Ach, was. Wir hätten ihn doch nur mit rauf zu den Hütten schleppen müssen.«

»Du bist jetzt wohl auf der Seite von diesem Schweinehund?« fuhr einer auf.

»Paß auf, was du sagst!«

Ein schnelles Rascheln ertönte, dann ein dumpfer Schlag.

»Hört auf, verflucht nochmal!« schrie der dritte Mann.

Noch mehr Rascheln, unterdrückte Flüche und Beschimpfungen, dann war der Streit geschlichtet.

»Wir haben keine Zeit für eure Kindereien. Das Wasser steigt immer schneller. Bis zum Abend muß das Dorf geräumt sein.«

»Die Frauen und Kinder müßten mittlerweile alle an Land sein.«

»Wenigstens sind dann die Hütten sauber, wenn wir kommen.« Jemand lachte rauh.

»Hast du deinen Karren schon beladen?«

»Ich denke gar nicht dran. Ich hab alles unterm Dach verstaut. Das Wasser reicht fast schon bis zur Brücke. Wenn das den Karren mitreißt, dann schwimmt mein Zeug im Fluß. Nee, oben im Haus ist es sicherer, bis dahin steigt das Hochwasser nicht.«

»Wollen wir hoffen, daß es nicht wieder über die Dächer steigt.«

»Hört endlich auf mit dem Gerede und packt an! Du bist am stärksten, du kannst Norwin allein tragen. Wir beiden schnappen uns Wibald.«

Jener, der einen Mann allein tragen sollte, murrte. »Ich hätte Lust, den Dummkopf hier liegen zu lassen. Läßt diesen blinden Bastard einfach entkommen...«

»Norwins Weib wird dir den Arsch versohlen, wenn du ihren Goldschatz ersaufen läßt.« Der Sprecher kicherte.

»Fangt ihr jetzt schon wieder an?«

»Ist ja gut«

Stöhnen und Keuchen verriet, daß die Ohnmächtigen aufgehoben und davongetragen wurden. Wenig später kehrte Ruhe ein, die Männer waren fort.

Hagen lag stocksteif in seinem Versteck. Ein einziges Wort hallte wie ein Echo in seinem Kopf wider.