Hochwasser.
Warum hatte Nimmermehr ihn nicht gewarnt? Was für ein Spiel spielte sie mit ihm?
Die Vorstellung, auf der Halbinsel gefangen zu sein, während von allen Seiten das Wasser herankroch, ohne einen Ort zur Flucht - wenigstens nicht für einen Blinden -, jagte ihm eisiges Entsetzen ein.
Noch einmal überkam ihn die Erkenntnis: Zunderwald versank im Rhein, und Nimmermehr hatte ihm nichts davon gesagt! Sie hatte ihn hier sitzenlassen, allein, auf sich gestellt, während die Menschen in ihre Fluchthütten am Ufer entkamen.
Mühsam rief er sich zur Ruhe, versuchte, sich allein auf das zu konzentrieren, was er als nächstes tun mußte. Fest stand, daß er ungesehen ins Dorf gelangen mußte. Am besten war, wenn er sich in Geduld übte und noch eine Weile wartete, bis Zunderwald geräumt war.
Dennoch hatte er keine Wahl. Er mußte abwarten, bis die Leute fort waren. Vielleicht gelang es ihm dann, sich in eines der Häuser vorzutasten und unters Dach zu klettern, dorthin, wo ihn das Wasser nicht erreichen konnte.
Aber auch dann war er noch nicht in Sicherheit. Wie lange würde er dort oben festsitzen, ganz ohne Nahrung und, schlimmer noch, ohne Gold! In spätestens einer Woche war das nächste Opfer fällig.
Freilich, wenn es ihm gelang, vorher das Haus des Vorstehers zu finden, Runolds Schatz zu stehlen und in den Fluß zu werfen...
Liebe Güte, dachte er und hätte beinahe lauthals aufgelacht; du bist blind! Blind! Du kannst nicht einmal drei Schritte ohne fremde Hilfe gehen, und da willst du ein Wunder vollbringen?
Er war nahe daran, endgültig zu verzweifeln. Dennoch riß er sich zusammen, kauerte sich neben dem Baumstamm zusammen und begann zu warten.
Er wartete lange Zeit, während sich in seinem Kopf die Gedanken und waghalsigen Pläne überschlugen, die er ein ums andere Mal verwarf.
Währenddessen glaubte er zu hören, wie der Fluß immer näher kam. Das Rauschen schien lauter zu werden, das abscheuliche Flüstern der Strömung deutlicher. Gelegentlich hörte er laute Rufe, die vom Dorf herübertönten, manchmal auch das Knirschen von Karrenrädern. Immer wieder erklang das Getrappel von Hufen auf Holz. Daß die Dorfbewohner die Brücke benutzten, schien ihm ein Hinweis darauf, daß die Landverbindung zum Ufer längst unter Wasser stand.
Es war schwierig, die Länge eines Tages abzuschätzen, doch als Hagen keine Geräusche mehr vom Dorf her hörte und sein Gefühl ihm sagte, daß es Abend geworden war, machte er sich auf den Weg.
Den Tag über hatte er hin und wieder geglaubt, vor seinem rechten Auge erneut einen Schimmer von Helligkeit wahrzunehmen. Er war nicht sicher, ob ihm nicht seine Einbildungskraft einen Streich gespielt hatte, aber er setzte all sein Hoffen auf diesen winzigen Lichthauch. Wie lange konnte es jetzt noch dauern, bis er auf dem einen Auge wieder sehen konnte? Drei Tage? Drei Wochen? Er hatte nicht die geringste Vorstellung.
Er kämpfte sich erneut auf die Füße und war verwundert, wie starr seine Glieder vom langen Sitzen geworden waren. Mit einem festen Stock, den er tastend zwischen den Bäumen gefunden hatte, suchte er nach Anzeichen für einen befestigten Weg, den die Männer am Morgen gegangen sein mochten.
Er fand ihn schon nach wenigen Schritten. Hier war der Boden festgeklopft und federte nicht wie am Fuß der Bäume; auch lagen keine Äste und Steinbrocken umher. Mit seinem Stock tastete er sich vor und betete, daß Zunderwald wirklich verlassen war. Wenn man ihn jetzt entdeckte, würde man ihn auf der Stelle töten.
Doch niemand schien ihn zu sehen. Nach zwanzig Schritten wandte er sich versuchsweise nach rechts und ging so lange vorwärts, bis sein Stock gegen eine feste Wand stieß. Ein Haus. Also hatte er die Grenze des Dorfes überschritten.
Er wandte sich wieder um und setzte seinen Weg fort, ließ die Stockspitze dabei an der Mauer schleifen. Er wünschte sich einen zweiten Stock, mit dem er den Boden vor sich hätte abtasten können, gemahnte sich aber, daß das Glück ihm wohl hold genug gewesen war.
Das nächste Gebäude war leicht nach hinten versetzt. Hagen kam an eine Tür, überlegte, ob er hineingehen sollte, entschied sich aber dann dagegen.
Das Schleifen des Stockes war nicht zu überhören. Falls sich wirklich noch jemand in Zunderwald befand, so mußte er Hagen jetzt bemerkt haben. Noch immer aber rührte sich nichts. Auch als er noch einmal stehenblieb und lauschte, war alles, was er hörte, ein Fensterladen, der im Wind auf und zu schlug.
Er fragte sich, ob die Dorfbewohner keine Wachen aufgestellt hatten. Für Räuber mußte es ein leichtes sein, von der Flußseite in Zunderwald einzudringen und die verlassenen Häuser zu plündern. Die Fluchthütten lagen sicher nicht allzu weit entfernt, wahrscheinlich am nahen Uferhang, da, wo das Hochwasser sie nicht erreichen konnte. Wenn die Dorfbewohner ihn von dort aus entdeckten, würden sie sicher jemanden herunterschicken, der ihn ein für allemal erledigte.
Dann fiel ihm ein, daß es vielleicht schon dunkel war. Ja, bestimmt war es das. Deshalb sah niemand, wie er sich durch die leeren Straßen schleppte! Dann hatte er tatsächlich lange genug gewartet. Ein kleiner, aber wichtiger Erfolg.
Ruckartig blieb er stehen. Fast wäre er gegen eine Mauer gelaufen; das nächste Haus war weit vorgezogen, oder aber die Straße machte einen Biegung. Er machte eine Vierteldrehung, lief bis zur nächsten Ecke an der Wand entlang und bog dann wieder nach rechts. Den Fenstern und der Tür nach war dies die Vorderseite. Das hieß, die Straße verlief weiter geradeaus.
Ihm war klar, daß er eigentlich gar nicht wußte, was er hier tat. Wenn Nimmermehr nicht bald auftauchte und ihm half, Runolds Gold aus dem Haus des Vorstehers zu holen und in den Fluß zu werfen, konnte er wirklich nichts anderes tun, als sich vor dem Hochwasser auf irgendeinem Dachboden zu verkriechen.
Hagen gestand sich endgültig ein, daß er in Zunderwald gefangen war.
Selbst wenn Nimmermehr zurückkehrte - er konnte ihr schwerlich noch einmal vertrauen. Andererseits war sicher sie es gewesen, die die beiden Wachen überwältigt hatte, damit es so aussah, als sei Hagen schwimmend ans Ufer geflohen. Damit hatte sie zumindest dafür gesorgt, daß nicht mehr nach ihm gesucht wurde.
»He!« sagte eine Männerstimme. »Blinder Mann!«
Hagen blieb stehen. Schützend hob er den Stock wie ein Schwert. Die Bewegung mußte mehr als lächerlich wirken.
Er war ihnen direkt in die Falle gelaufen!
»Ich mag blind sein«, gab er so kühn wie nur möglich zurück, »aber ihr werdet kein leichtes Spiel mit mir haben.«
Ein Moment des Schweigens verging, dann war die Stimme ganz in seiner Nähe. »Wollt Ihr einem Mann Gottes drohen?« fragte sie sanft.
»Jedem, der es wagt, näher zu kommen.«
»Nun, ich bin näher gekommen. Aber nicht, um Euch zu schaden. Ihr seht aus, als könntet Ihr Hilfe gebrauchen - meine bescheidene und die unermeßliche des Herrn.«
Hagen ließ sich von den Worten des Mannes nicht beirren. »Sprecht Ihr von der gleichen Art von Hilfe, die Ihr Runold habt zukommen lassen?«
»Wüßte ich, wer Runold ist, könnte ich Euch darauf eine Antwort geben, mein Freund.«
Hagen mußte sich eingestehen, daß dies nicht wie die Stimme eines aufgebrachten Mörders klang. Zudem schien der Sprecher allein zu sein. Es gab weder Gemurmel im Hintergrund noch das Scharren von Füßen. Nur die warmherzigen Worte eines einzigen Mannes.
»Ihr seid ein Mann des Christengottes?« fragte Hagen argwöhnisch.
»In der Tat. Und ich habe so oft Nächstenliebe gepredigt, daß ich Euch schwerlich allein hier draußen stehenlassen kann. Das Hochwasser wird bald die ersten Häuser erreichen.«
»Ist es Nacht?«
»Stockfinstere noch dazu«, gab der Priester zur Antwort. Der Stimme nach war er nicht mehr jung. »Laßt mich Euch in meine Unterkunft führen. Dort können wir ausharren, bis die Gefahr vorüber ist. Es gibt sogar Vorräte im Überfluß. Aber sagt, mein Freund, wie ist Euer Name?«