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»Ich bin Hagen von Tronje.«

Eine Hand legte sich sanft auf Hagens Unterarm. Er zuckte kurz, ließ dann aber geschehen, daß der Priester ihn führte. Nach einigen Schritten sagte der Mann: »Mich nennt man Bruder Morten.«

Hagen blieb wie vom Blitz getroffen stehen, öffnete den Mund - und schloß ihn wieder. Es war besser, er würde sich nichts anmerken lassen.

»Seid Ihr aus Zunderwald?« fragte er statt dessen als sie weitergingen.

»Nur auf der Durchreise.«

»Im Auftrag des Herrn, nehme ich an.«

»Aber ja.«

»Weshalb seid ihr nicht vor dem Hochwasser geflohen wie alle anderen?«

»Der Wille des Herrn hat mich hierher entsandt, und ich werde bleiben, bis der Herr mich von hier abberuft. Der Dorfvorsteher war so freundlich, mir für die Zeit meines Aufenthalts sein Haus zur Verfügung zu stellen.«

Hagen blieb gefaßt. »Ihr wohnt im Haus des Vorstehers?«

»Auf dem Dachboden. Man sagte mir, ich sei dort sicher vor dem Hochwasser. Aber vielleicht wird es gar so arg nicht kommen. Ich habe das Dorf gesegnet, damit ihm das Schlimmste erspart bleibt.«

»Ihr glaubt, Euer Segen kann das Wasser zurückdrängen?«

»Wenn es der Wille des Herrn ist, ja.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Moses hat ein ganzes Meer verdrängt, als Gott ihm die Macht dazu gab.«

Hagen wußte nicht, wer Moses war, aber er hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß irgendwer Macht über ein Meer haben konnte. »So seid Ihr nach Zunderwald gekommen, um die Worte der Bibel zu verkünden?« fragte er.

Bruder Morten zögerte einen Moment. »Für Segen und Predigt ist immer Zeit, ganz gleich wohin meine Mission mich führt. Aber was ist mit Euch selbst, Hagen von Tronje? Ihr scheint gleichfalls fremd hier zu sein.«

»Ein Mann namens Runold hat mich gezwungen, ihn hierher zu begleiten.«

Der Priester verharrte. »Ihr meint den Mann, der von den Dorfbewohnern hingerichtet wurde? Lieber Himmel, Ihr müßt mir glauben, daß ich versucht habe, seinen Tod zu verhindern.« Er klang jetzt ehrlich aufgebracht, und der Druck seiner Finger auf Hagens Unterarm wurde kräftiger, fast schmerzhaft. »Sie wollten nicht auf mich hören, sagten, er sei ein Sünder vor Gott.«

»Nicht vor dem Euren«, entgegnete Hagen. »Sein Vergehen war es, Menschen zu Göttern zu machen - zumindest ließ er die Leute das glauben. Er hat einen schönen Batzen Gold damit verdient, wie ich hörte.«

»O ja«, stöhnte Bruder Morten. »Das hat er wohl. Die Dorfbewohner haben es sichergestellt und im Haus des Vorstehers untergebracht. Ich erklärte ihnen, daß auch das eine Art der Sünde wäre, aber sie stritten es ab. Schließlich versprachen sie mir, es den Vertretern der christlichen Kirche zukommen zu lassen.«

»Also Euch«, bemerkte Hagen. »Mir?« fragte Morten entsetzt. »Der Herr bewahre mich vor solchen Gaben. Nein, ich könnte es auf meinen Reisen nicht einmal tragen, geschweige denn ausgeben. Ich bin ein bescheidener Mensch. Gold ist eher für die Kirchenherren bestimmt, für den Bau neuer Gotteshäuser.«

»Der Vorsteher hat Euch tatsächlich versprochen, das Gold solch ehrbaren Zwecken zukommen zu lassen?«

»Er leistete einen Eid auf die Bibel.«

»Welch großzügige Geste.«

»Allerdings, mein Freund, allerdings.« Hagen wurde nicht schlau aus seinem Führer. Wenn dies der Morten von Gotenburg war, vor dem Nimmermehr solche Angst gehabt hatte - und daran konnte eigentlich kein Zweifel bestehen -, wie ließ sich ihre Beschreibung dann mit dem Mann vereinbaren, der jetzt neben ihm ging?

»Sagt«, bat Hagen, »wie ist Euer voller Name?«

»Er wird Euch nichts sagen. Ich stamme aus dem Geschlecht derer von Gotenburg. Warum wollt Ihr das wissen?«

»Mir war, als hätte ich schon von Euch gehört.«

»Ihr scherzt!« Der Priester wirkte erfreut. »Dann eilt mir die Lehre Gottes voraus?«

Hagen zögerte. »Ja, so könnte man es nennen.«

Morten schien seine Zurückhaltung nicht zu bemerken. Statt dessen redete er weiterhin fröhlich drauflos. Von seinen Reisen sprach er, von den zahllosen Sünden, die er auf seinem Weg hatte mitansehen müssen, aber auch vom Guten in den Menschen, selbst in jenen, denen man es nicht ansah.

Als Bruder Morten stehenblieb und eine Haustür öffnete, tat Hagen, als stolpere er. Dabei ließ er sich gegen den Priester fallen und fuhr wie zufällig mit der freien Hand über dessen Gewänder.

»Wartet, wartet, mein Freund«, rief Morten aus und klang vergnügt. »Das Haus läuft uns nicht fort.«

Morten trug einen langen Umhang oder Mantel, vielleicht auch eine weite Kutte. Aber winzige Teufel, wie Nimmermehr gesagt hatte, saßen keine darunter. Morten schien nichts weiter zu sein als ein untersetzter, ja geradezu kleinwüchsiger älterer Mann, der zu Leibesfülle neigte; eine Gestalt, wie Hagen sie schon zu Dutzenden in den Klöstern der Christenorden gesehen hatte.

Der Priester führte ihn vorsichtig eine enge Holztreppe hinauf, dann eine zweite, bis sie auf dem Dachboden des Hauses standen. Es roch nach Tuch und Kleidung, die hier oben zum Trocknen aufgehängt wurden, nach Staub und Holz und kaltem Rauch.

»Seid so gut und beschreibt mir Eure Kammer, Bruder Morten«, bat er.

Der Priester half ihm, sich auf einem Schemel niederzulassen. »Es ist keine wirkliche Kammer, nur der hohle Giebel des Hauses. Der Dachboden ist ziemlich groß, aber der Vorsteher und seine Familie haben all ihren Besitz hier oben verstaut, und so ist nicht allzuviel Platz übriggeblieben. Es gibt ein offenes Kaminfeuer, außerdem hängen überall Laken und Decken.« Er lachte leise. »Es soll aussehen, als seien sie von der letzten Wäsche übriggeblieben. Aber ich vermute, der Vorsteher ließ sie aufhängen, damit sie sein Hab und Gut vor meinen Blicken schützen.«

»Er hat Euch kein Bett unten im Haus angeboten?«

»Das wäre mir nicht recht gewesen. Die Kargheit dieses Speichers läßt mich nur noch inniger Gottes Nähe und Wärme spüren.«

Am Rascheln der Kleidung hörte Hagen, daß auch Morten sich irgendwo hinsetzte.

»Bewahrt Ihr das Gold hier oben auf?« fragte Hagen.

»Ihr wollt es doch nicht stehlen, nicht wahr?« Einen Moment lang klang der Priester erschrocken, dann aber lachte er beschämt. »Verzeiht mir, Freund Hagen, ich vergaß Eure Blindheit... Ihr müßt mein Mißtrauen entschuldigen, gerade einem Kranken wie Euch gegenüber, aber -«

»Ich bitte Euch«, unterbrach Hagen ihn rasch. »Ihr habt mich gerettet. Wie könnte ich Euch etwas übelnehmen?«

»Habt Dank, mein Freund. Was das Gold angeht... es liegt gleich neben Euch, ein ganzer Sack voll.«

Hagen streckte die Hand aus und ertastete tatsächlich nach kurzer Suche grobes Leinen, das sich über etwas Hartem spannte. Seine Finger fanden eine Öffnung und glitten hinein. Er fühlte Münzen, unzählige Münzen, aber auch Ringe, Ketten und Geschmeide. All das schien ihm weniger der Lohn für Runolds Vorführungen zu sein als vielmehr die Beute eines Diebes. Offenbar war der Gaukler nicht davor zurückgeschreckt, seine Zuschauer um das eine oder andere edle Stück zu erleichtern. Er fragte sich, ob die falschen Götter von den Räubereien ihres Anführers gewußt hatten.

»Ich möchte Euch um eine ehrliche Antwort auf eine Frage bitten, Bruder Morten.«

»Natürlich, mein Freund.«

»Habt Ihr je zuvor meinen Umhang gesehen?«

Morten lachte verwundert. »Euren Umhang? Ein schönes Stück, zweifellos. Aber ich habe es heute zum ersten Mal gesehen. Ich bin sicher, es wäre mir in Erinnerung geblieben. Vor allem der Kragen aus Rabenfedern ist wundervoll gewirkt. Es sind doch Rabenfedern, nicht wahr?«

»Ja.« Hagen entspannte sich und versuchte, seine Gedanken in geordnete Bahnen zu zwingen. Nimmermehr hatte gesagt, sie habe den Mantel von Morten gestohlen. Noch eine Lüge.