Er faßte sich ein Herz und fragte: »Kennt Ihr ein Mädchen namens Nimmermehr?«
Morten schwieg eine Weile, und Hagen wünschte sich verzweifelt, er könnte sein Gesicht sehen, die Empfindungen, die es ausdrückte. So aber mochte Mortens Schweigen alles mögliche bedeuten.
Schließlich sagte der Priester nachdenklich: »Das ist ein merkwürdiger Name. Aber ich glaube nicht, daß ich ihn je zuvor gehört habe. Mein Gedächtnis ist nicht das beste, aber einen Namen wie diesen... nein, den habe ich nie gehört. Sagt mir, wer ist dieses Mädchen?«
»Jemand, den ich vor einigen Tagen getroffen habe«, entgegnete Hagen geschwind, ohne etwas preiszugeben.
»Sie muß über ein edles Wesen verfügen, wenn Ihr Euch nach ihr erkundigt, ohne sie je gesehen zu haben.«
»Ein edles Wesen, ja«, gab Hagen tief in Gedanken zurück.
Morten kicherte. »Nun, ich sehe schon, Ihr wollt mir nicht mehr davon erzählen. Ich bin ein Priester und wäre Euch in diesen Belangen ohnehin kein guter Ratgeber.«
Bemüht, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln, fragte Hagen: »Was gedenkt Ihr eigentlich zu tun, wenn Räuber vom Fluß aus über Zunderwald herfallen? Das Gold liegt hier oben vollkommen unbewacht.«
»Oh, sie werden es nicht so einfach haben, wie Ihr glauben mögt, mein Freund.« Morten kramte lautstark zwischen irgendwelchen Gegenständen, dann drückte er Hagen einen langen Holzstab in die Hand. »Mein treuer Speer«, erklärte er. »Er hat mir auf meinen Reisen gute Dienste geleistet. So manchen Wegelagerer habe ich damit in die Flucht geschlagen, das dürft Ihr mir glauben. Wenn wirklich Räuber kommen und sich am Gold der Kirche vergreifen wollen, nun, dann sollen Sie kommen und sich Ihre Abreibung holen.«
Die kindliche Selbstüberschätzung des Priesters rührte Hagen zutiefst. Er tastete an dem Speer entlang und fand an seinem Ende eine scharfe, langgezogene Spitze, fast wie die Klinge eines Kurzschwertes.
»Wenn Ihr wollt«, sagte Morten, »dann behaltet ihn für eine Weile als Stock. Ich brauche ihn im Augenblick nicht, und er scheint mir besser geeignet als der krumme Ast, den Ihr aufgelesen habt.«
»Glaubt Ihr, daß das nötig ist? Ich meine, hier oben im Haus brauche ich keinen Stock und -«
»Ach, was«, fiel Morten ihm ins Wort. »Nehmt ihn schon. Ihr seht aus wie ein Krieger, ganz gleich ob blind oder nicht, und Ihr werdet schon wissen, wie man mit so einem Ding umzugehen hat, ohne daß Ihr einem von uns damit den Bauch aufschlitzt.«
»Ihr seid ein wahrlich guter Mensch, Bruder Morten.«
»Alle Menschen sind gut, Freund Hagen, nur daß manche es besser zu verbergen wissen als andere.«
»Wie lange seid Ihr schon Priester?« Hagen rammte die Spitze des Speers in den Boden, damit er ihm mehr Halt geben konnte.
»Über dreißig Jahre.«
»Und Ihr habt es nie bereut?«
Leise Erheiterung sprach aus Mortens Stimme. »Es gab die ein oder andere Versuchung des Fleisches, wenn es das ist, worauf Ihr hinauswollt. Aber das ist lange her. Damals war ich jung und noch nicht so gefestigt im Glauben wie heute.«
»Hattet Ihr jemals mit Geistern zu tun?« Hagen sprach das Wort nur mit Widerwillen aus. Zu nahe war der Fluß, zu nahe der Siebenschläfer.
»Abgesehen vom Heiligen Geist, meint Ihr?« Morten zögerte kurz, dann fuhr er fort: »Hin und wieder hat man mich gebeten, eine Austreibung vorzunehmen. Man könnte sagen, daß ich eine gewisse Übung darin habe, arme Menschen vom Fluch der Toten zu reinigen. Aber ich muß zugeben, daß es lange Zeit zurückliegt, seit ich dergleichen gewagt habe.«
Hagen spürte, daß ein zaghaftes Zittern durch seine Glieder strömte.
»Ist Euch kalt?« fragte Morten. »Wartet, ich helfe Euch hinüber zum Kamin.«
Der Priester nahm ihn bei der linken Hand. Mit der Rechten stützte Hagen sich auf den Speer, benutzte ihn wie eine Krücke, während er dem Mann die wenigen Schritte zum Kaminfeuer folgte.
»Laßt mich Holz nachlegen«, sagte Morten und ließ Hagen los.
Unruhig tastete Hagen die Hand vor, berührte die Kutte des Priesters. Morten hockte vor ihm am Boden, hatte ihm den breiten Rücken zugewandt. Holzblöcke polterten in die Flammen, es knisterte.
»Es ist feucht hier oben, das tut weder uns noch dem Feuer gut.« Er schien mit irgend etwas in der Glut zu stochern.
»Es tut mir leid«, sagte Hagen.
»Was meint Ihr?« fragte Morten, immer noch mit dem Kamin beschäftigt. »Daß die Flammen so leicht ausgehen? Daran trifft Euch nun wahrlich keine Schuld.«
»Nein«, sagte Hagen leise. Und nochmaclass="underline" »Es tut mir leid.«
Dann nahm er den Speer in beide Hände, zielte blind und rammte ihn dem Priester zwischen die Schulterblätter.
Er fror, als er hinaus auf die Straße trat. Ein eiskalter Wind peitschte vom Fluß herüber durchs Dorf, heulte in den verwinkelten Gassen und Treppenfluchten, pfiff durch morsche Dächer und klappernde Fensterläden. In der Ferne schlugen Hunde an, irgendwo am Ufer, bei den Fluchthütten. Die Strömung sang ein klagendes Trauerlied, durchsetzt vom Wispern und Kichern der Geister. Stimmen voller Häme, Gesänge aus der Tiefe des Leids.
Hagen schulterte den Goldsack und tastete sich mit dem blutigen Speer die Straße entlang. Mehrmals drohte er zu stolpern, doch sein Wille trieb ihn weiter voran. Er hörte, wie über ihm am Himmel die Raben krächzten, doch keiner von ihnen kam näher oder setzte sich auf seiner Schulter nieder. Er flößte sogar den Tieren Furcht ein, hager und ganz in Schwarz, bis zum Scheitel mit Mortens Blut besudelt.
Er folgte dem Glühen vor seinem rechten Auge und wußte, daß es ihn nach Süden führte, zum unteren Ende der Landzunge. Die Dorfstraße verlief vollkommen gerade, Hagen stieß nirgendwo an. Gut möglich, daß ein anderer ihm den Weg wies; jemand, der sich vor Gier und Vorfreude verzehrte. Der Fluß war unersättlich. Forderte, forderte.
Das Gelände stieg kaum merklich an. Hagen mußte die Häuser hinter sich gelassen haben. Der Schimmer vor seinem Auge schien zum Leben zu erwachen, er begann jetzt zu zucken, zu flackern. Fauchen und Knistern lag in der Luft. Tannennadeln knallten, als die Flammen auf sie übergriffen. Es wunderte Hagen nicht mehr, als die gelbrote Helligkeit sich bei seinem Näherkommen aufspaltete. Aus einem Feuer wurden fünf. Fünf brennende Tannen.
Hitze schlug ihm entgegen und vertrieb die Kälte der Nachtwinde. Nur das Eis in seinem Innerem ließ die Wärme unangetastet.
Als die Glut auf der Haut fast unerträglich wurde, blieb Hagen stehen. Er stützte sich schwer auf Mortens Speer und wuchtete den Goldsack auf den Boden. Münzen und Geschmeide klirrten beim Aufprall.
Die Stimmen der Flußgeister wirbelten in seinen Ohren, drifteten auseinander, fanden neue Form, verdichteten sich, mal zu unverständlichen Worten, dann wieder zum Rauschen der Strömung.
Nimmermehr war plötzlich neben ihm.
»Sag, Hagen, wie lange ist es her, daß du begonnen hast, für Gold zu morden?«
Ihre Stimme: so leise, so zaghaft, so sanftmütig.
Hagen war müde, die Erschöpfung schwächte seine Sinne. »Ich hatte nie eine andere Wahl.«
Der schwarze Abgrund vor seinem zerstörten linken Auge wurde allmählich von dem Flackern von rechts verdrängt. Was immer in der Tiefe gelauert hatte - es würde entweder von dem Licht emporgespült oder vernichtet werden.
»Aber wie lange ist es her?« fragte sie beharrlich. »Wann ist es zum ersten Mal geschehen?«
»Kurz, nachdem ich die Burg des Otbert von Lohe verließ.« Nach einem langen Atemzug fügte er hinzu: »Die Burg deines Vaters, Malena.«
Nimmermehrs Stimme wechselte von seinem linken zum rechten Ohr, ohne daß er eine Bewegung wahrnahm. Kein Luftzug, kein Geräusch. »Malena? Nein, Hagen. Nicht Malena.«
Er zögerte, versuchte nachzudenken. Dann, auf einen Schlag, verstand er. »Nane«, sagte er leise. »Du bist Nane.«