»Malenas Schwester, ja«, sagte sie bar jeder Empfindung. »Ich war nicht zu Hause, als es geschah. Ich habe geweint, weil du und Malena fortgeritten wart. Ich bettelte und flehte so lange, bis Mutter mir gestatte, mit meiner Amme einen Ausflug in die Wälder zu machen. Wir versprachen ihr, uns nicht weit von der Burg zu entfernen, dennoch verirrten wir uns. Als wir den Weg zurück fanden, war es dunkel. Wir sahen vom Waldrand aus, wie du die Burg verließest, in voller Rüstung, mit Vaters Langbogen bewaffnet. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, aber die Amme hat es mir später erzählt. Nachdem ihr klargeworden war, daß alles Leben aus der Burg verschwunden war, brachte sie mich weit, weit fort und zog mich auf, in einem Dorf am Fluß, ähnlich wie diesem hier.
Jahre später überraschte uns in einer Nacht das Hochwasser. Die meisten Menschen konnten sich retten, sie hatten gelernt, wie man schwimmt. Ich nicht. Meine Amme überlebte, aber ich ertrank. Das Mädchen Nane wurde eins mit den Rheingeistern.
Von ihnen erfuhr ich, was meiner Familie zugestoßen war, und auch, wer die Schuld daran trug. Dennoch: So lange ich auch suchte, Malena und meine Eltern waren nicht unter den verlorenen Seelen am Grunde des Flusses. Sie waren anderswo, denn der Siebenschläfer verweigerte ihnen die Gnade, mit den anderen durch die Tiefen zu schweben.
Ihre Seelen waren zu Gefangenen geworden, an einem Ort, den die Geister das Herbsthaus nannten. Lange Zeit suchte ich nach dem Siebenschläfer, um ihn anzuflehen, mich zu ihnen zu bringen, doch ich fand ihn nicht. Er ist nicht wie wir anderen. Er ist böse, verschlagen und hinterhältig, und er spricht allein durch seine drei Dienerinnen, zeigt sich selbst keinem anderen, nicht einmal den übrigen Geistern des Flusses.
Eine Ewigkeit lang zog ich durch die Klüfte des Rheins, durch die eisigen Abgründe, wo das Schreien und Flehen und Weinen niemals ein Ende hat. Doch das alles war vergebens - bis mir endlich klar wurde, was ich zu tun hatte. Wenn ich nicht zum Siebenschläfer kommen konnte, dann mußte er zu mir kommen. Und es gab nur einen, der regelmäßig mit ihm oder seinen Dienerinnen zusammentraf.«
Hagen hob den Speer und schleuderte ihn voraus in die lodernde Helligkeit. Ein kaum hörbares Klatschen verriet, daß der Wurf fehlgegangen war; der Speer war irgendwo im Rhein versunken. Es würde noch Tage, noch Wochen dauern, bis er wieder sehen oder gar zielen konnte.
»Du warst die ganze Zeit über bei mir?« fragte er ins Leere. »Während ich mit Runold ritt, bewußtlos in der Scheune lag - und auch auf dem Dachboden?«
»Die ganze Zeit«, bestätigte Nanes Geist. »Niemand sieht mich, Hagen. Das gilt nicht nur für dich, sondern auch für jeden anderen, ganz gleich ob sehend oder blind. Ich kann dich meine Stimme hören lassen, und ich kann dir das Gefühl geben, mich zu berühren. Aber sehen? Nein, Hagen, sehen kann mich keiner.«
Er brauchte eine Weile, um die Bedeutung ihrer Worte völlig zu erfassen. Dann erst sagte er langsam: »Dieses Gold, es hat niemals Runold gehört, oder?«
»Nein. Es gibt viel davon unten im Rhein, in den Wracks gesunkener Schiffe. Die Geister der Bootsleute behüten es mit wachsamen Blicken. Es war nicht leicht, etwas davon heraufzuholen.«
Die heiße, rauchgeschwängerte Luft strömte wie flüssige Glut in Hagens Brust. Er aber verschwendete keinen Gedanken an den Schmerz. »Du hast Runold das Gold untergeschoben um -«
»Die Gier der Dorfbewohner zu wecken, natürlich. Ich mußte die Gaukler loswerden, so schnell es nur ging. Und Zunderwald hat eine lange Tradition, was Raub und Diebstahl angeht.«
»Weshalb aber diese Geschichte über Bruder Morten? Warum das Gerede vom Pakt mit dem Bösen, von Teufeln unter seinem Mantel?« Die Hitze wurde immer unerträglicher, aber Hagen wagte nicht zurückzutreten, aus Angst, Nanes Geist, Nimmermehr, könne verschwinden.
»Ich kannte ihn schon lange. Er hat viele von uns vertrieben, die in die Körper von Menschen schlüpften. Er -«
Hagen unterbrach sie. »So wie du in die Tochter des Vorstehers geschlüpft bist?«
»Ja. So etwas ist schwierig, und niemals von Dauer, aber Priester wie Bruder Morten können uns dabei vernichten.«
»Er war ein guter Mann.«
»Was dich nicht daran gehindert hat, ihn hinterrücks zu ermorden.«
Hagen verzog keine Miene. »Ich habe es früher getan, und ich werde es in Zukunft tun. Das ist mein Fluch.«
»Dein Fluch ist es, dem Siebenschläfer Gold zu opfern, nicht Unschuldige zu töten!« Sie klang jetzt eine Spur schärfer.
»Das eine ist nur eine Folge des anderen.« Seine Stimme bebte; die Kälte, die er hineinlegen wollte, wirkte gekünstelt und falsch. Die Überzeugung, die er sich übergestreift hatte, war zu groß für ihn, wie ein falsches Paar Stiefel. Sie war für andere gemacht, nicht für ihn, und doch hatte er keine Wahl. »Du hast mir meine Frage nicht beantwortet«, sagte er langsam. »Warum dieses Märchen von Mortens Pakt mit dem Bösen?«
»Ich wollte sicher sein, daß du seine Unschuld und Reinheit in ihrer vollen Größe wahrnimmst«, gab sie zur Antwort. »Du hast einen Hexer erwartet, und begegnet ist dir ein Heiliger. Ich wollte wissen, ob du ihn trotzdem tötest.«
Er schnaubte verächtlich - nur ein weiterer schwacher Versuch, sich selbst zu schützen. »Und nun, da du es weißt?«
»Nun kann ich Malena berichten, was aus dir geworden ist«, sagte sie eisig. »Wenn ich ihr im Herbsthaus gegenüberstehe, wird sie erfahren, wie du wirklich bist, Hagen von Tronje. Und sie wird ihren Schmerz, von dir getrennt zu sein, überwinden können.«
Darauf schwieg er eine lange Zeit, während die fünf Tannen immer heller brannten. So wie sie Hagen den Weg gewiesen hatten, würden sie auch die Dienerinnen des Siebenschläfers herbeilocken.
Erst als er nicht mehr sicher war, ob Nanes Geist überhaupt noch um ihn wehte, stellte er seine letzte Frage:
»Warum dieser Ort?«
»Du hast ihn doch erkannt, oder?«
»Aber warum gerade hier?«
Jetzt lachte sie leise, hell und sanft und mädchenhaft. »Du hast ihn gesucht, Hagen. Ohne es zu wissen, vielleicht, ohne es wahrhaben zu wollen. Aber all deine Wege, deine Reisen, immer kreisten sie um dieses eine Ziel. Du wolltest erfahren, was damals unter dir war, in jener Nacht, als du zwischen den Tannenwipfeln dahintriebst. Du hast davon geträumt, nicht wahr? Von schwarzen Abgründen voller Bestien und böser Götter. Aber so war es nicht, Hagen. Da war nichts, als ein einfacher Opferplatz der Dorfbewohner, die mit dem Gold den Siebenschläfer um Schonung baten. Sie haben ihm geopfert, was sie von anderen geraubt hatten. Er aber hat ihr Flehen nicht erhört. Der Fluß überschwemmte ihre Häuser bis über die Giebel. Einige dieser Menschen warfen sich verbittert in die Fluten, trugen das Gold hoch hinauf in die Wipfel, damit das Wasser es nicht mehr erreichen möge. Und dann, Hagen, kamst du. Du hast nicht nur die Dorfbewohner um ihre Beute gebracht, du hast auch das Opfer des Siebenschläfers gestohlen. Du hast deine Strafe verdient, jeden Tag voller Elend, der über dich kam. Wir aber, die wir mitgerissen wurde von der Rachsucht des Siebenschläfers, wir waren unschuldig. Unschuldig, Hagen! Trotzdem wurde meine Familie zu einem Leid verdammt, das viel größer ist, als das deine je sein wird.«
Hagen ging in die Knie, schlug die Hände vors Gesicht. Lange Zeit hockte er da, während der Opferplatz des Siebenschläfers von den Flammen verzehrt wurde. Erst als er langsam den Kopf wieder hob und abermals ins Feuer blickte, kam ein Flüstern über seine Lippen.
»Aber ich war nur ein Kind! Nichts von all dem habe ich gewußt!«
Ihre Stimme wehte wie eiskalter Atem in sein Ohr. »Ich war auch nur ein Kind, Hagen. Malena war ein Kind. Sie hat nie -«
Ein tosender Windstoß übertönte ihre Worte, ein donnerndes Krachen und Rauschen erklang, und tausendfache Gischt sprühte Hagen ins Gesicht.
»Er kommt«, flüsterte er in den Lärm einer Flutwelle. »Der Siebenschläfer kommt.«