»Warum?« fragte er matt. »Wer mich erschlagen will, wird sich durch ein Kettenhemd nicht abschrecken lassen.«
»Du könntest ein wenig mehr Selbstvertrauen zeigen«, wies sie ihn zurecht. »Wenn du deinen Helm trägst, wird niemand merken, daß du blind bist.«
Er lachte auf, ein verbitterter, böser Laut. »Bis ich über den erstbesten Stein stolpere, meinst du.«
»Du wirst nicht stolpern. Du wirst reiten.«
»Reiten? Auf deinen Schultern?«
»Laß deine Wut nicht an mir aus, Hagen von Tronje«, gab sie erbost zurück und seufzte. »Wir werden natürlich auf einem Pferd reiten.«
Das machte ihn stutzig. Er hatte geglaubt, seine Ohren seien gut genug, um zu bemerken, wenn ein Pferd in der Nähe war. Das Schnauben, das Klappern der Hufe...
Doch da war noch etwas, das ihn alarmierte:
»Woher kennst du meinen Namen?«
Sie schwieg einen Augenblick, womöglich, weil sie erkannt hatte, daß sie zuviel preisgegeben hatte.
Dann aber sagte sie nur leise: »Das Pferd steht draußen vor der Höhle.« Kleiderrascheln verriet, daß sie aufstand.
»Nimmermehr!« fuhr er auf. Es war eigenartig, diesen Namen auszusprechen. »Woher weißt du, wie ich heiße? Wir haben nie darüber gesprochen.«
Sie klang weit entfernt, als sie sagte: »Du hast im Schlaf geredet.«
»Ist das wahr?«
»Warum sollte ich dich belügen?«
Er hörte am schwindenden Hall ihrer Schritte, daß sie die Höhle verlassen hatte. Wenig später kehrte sie zurück, und aus der Ferne erklangen genau jene Laute, die er eben noch vermißt hatte: das Schnauben eines Roßes, der harte Schlag seiner Hufe auf Stein. Im Hintergrund kreischten die Raben.
Mit einemmal war das Mädchen wieder neben ihm und ergriff seine Hand. »Komm mit.«
»Wohin reiten wir?« Er fühlte sich wie ein Greis, so abhängig war er von ihrem Wohlwollen - sogar, was die Aufrichtigkeit ihrer Antworten anging.
»Ich erklär’s dir, wenn wir von hier fort sind.«
Stolpernd folgte er ihr über die Geröllhalde, die vom Grund der Höhle hinauf zum Ausgang führte. »Warum die plötzliche Eile?«
»Die Gegend ist immer noch voller Krieger. Wenn wir hierbleiben, werden sie uns finden.«
Es gab wenig, das er dem entgegensetzen konnte. Wieder mußte er ihr einfach glauben.
Es war kälter geworden, als sie ins Freie traten. Der Vortag und sogar die Nacht waren einigermaßen warm gewesen. Jetzt aber drang die Luft beim Atemholen empfindlich kühl in Hals und Nase.
Das Pferd war groß; das spürte er, als er seinen Rücken berührte, ein hohes, kräftiges Tier.
»Ein Schlachtroß?« fragte er. Es hatte einen einfachen Sattel ohne Verzierungen, doch an der Seite hingen Gurte für Schwertscheide und andere Waffen.
»Kann sein«, erwiderte sie nur. »Ich habe ihn schon länger.«
»Woher hast du ihn?«
»Es ist mir zugelaufen, genau wie du. Und ich kenne auch seinen Namen.« Sie kicherte; es klang hell und ehrlich. »Er heißt Paladin.«
Zugelaufen? Das Streitroß eines Kriegers? Noch eine Merkwürdigkeit. Aber er gestand sich ein, daß alles, was ihm an Nimmermehr seltsam vorkam, ebensogut eine Folge von Zufällen sein mochte. Zudem, so sagte er sich, sorgte seine Blindheit dafür, daß er sich über Kleinigkeiten viel mehr Gedanken machte als früher. Er würde sich noch zum Grübler entwickeln.
»Woher kennst du seinen Namen?« fragte er, dennoch ein wenig mißtrauisch.
Nimmermehr lachte auf. »Ich habe ihn ihm gegeben, Dummkopf.«
Sie sagte das so freundlich, daß er ihr nicht böse sein konnte. Hagen der Dummkopf - vielleicht war es ja genau das, was sie aus ihm gemacht hatte; nein, er war ungerecht. Die Blindheit hatte ihm das angetan, nicht das Mädchen.
»Warte, ich helfe dir in den Sattel.«
Unwirsch lehnte er ab. »Das kann ich allein.«
Sofort zog sie ihre Hände zurück und ließ ihm seinen Willen. Hagen ertastete den Sattelknauf und zog sich nach oben. Er spürte, wie einige der kleineren Wunden abermals weh taten, wahrscheinlich sogar aufbrachen, doch der Triumph, wenigstens diese Hürde ohne Hilfe bewältigt zu haben, machte den Schmerz bedeutungslos.
Nimmermehr knotete ihr Bündel am Sattel fest und reichte ihm seinen Helm: »Setz ihn auf.« Dann, ehe er sich versah, saß sie hinter ihm, legte die Arme um seinen Oberkörper und schmiegte sich eng an seinen Rücken.
»Und nun?« Das Gefühl, wieder im Sattel zu sitzen, festigte ihn ein wenig.
»Gib mir die Zügel«, sagte sie.
Er tastete nach dem Lederband und drückte es ihr widerwillig in die Hände. Es gefiel ihm nicht, daß sie den Hengst lenken würde, aber sie hatte natürlich recht; er allein hätte sich nur auf den Instinkt des Tieres verlassen können, um nicht samt Pferd und Mädchen in der nächstbesten Felsspalte zu verschwinden.
Das Tier - Paladin hatte sie es genannt - setzte sich in Bewegung. Loses Geröll prasselte unter seinen Hufen talwärts. Sie waren noch lange nicht in Sicherheit.
Der Ritt ging bergauf. Nimmermehr sagte, sie wolle den Abstieg erst auf der anderen Seite der Berge wagen. Wenn Hagens Orientierungssinn ihn nicht im Stich ließ, dann lag irgendwo dort drüben der Rhein, gar nicht weit von hier. Der Gedanke erfüllte ihn mit dumpfer Panik, aber nur einen Augenblick lang.
»Was habe ich heute nacht noch gesagt?« fragte er unvermittelt.
»Oh, nicht viel«, versicherte sie ihm, eine Spur zu schnell. Wieder überkam ihn Argwohn. Doch dann sagte sie etwas, das sie tatsächlich nur von ihm selbst erfahren haben konnte: »Du hast von deinem Bruder gesprochen, von Dankwart, und davon, daß du zu ihm willst, nach Worms.«
Niemand konnte von Dankwarts Angebot wissen, ihm in die Stadt des Königs zu folgen und sich am Hof zu verdingen, niemand außer Hagen und Dankwart selbst. Hagen hatte es damals abgelehnt, aber seit einigen Monden schon trieb ihn das Schicksal immer näher zum Königshof, als wollte es dafür sorgen, daß er doch noch die richtige Entscheidung traf. Dankwart war Stallmeister des Königs, und er hatte Hagen versichert, auch für ihn eine angemessene Stellung zu finden. Doch welche Stellung war schon einem Söldner angemessen, einem Mann, der freiwillig auf die Ritterwürde verzichtet hatte?
Nimmermehr hatte beide Arme fest um seine Seiten gelegt, damit sie die Zügel besser fassen konnte. Ihre Ellbogen rieben an seinem Kettenhemd. Das mußte weh tun, aber sie erduldete es stumm.
Nach einer Weile erreichten sie ebenen Grund, wahrscheinlich eine Hochebene weit oben in den Bergen. Paladin schnaubte wie ein Mensch, der einen schweren Aufstieg hinter sich gebracht hatte.
»Wobei soll ich dir helfen?« fragte Hagen endlich, als das Mädchen keinerlei Anstalten machte, von sich aus die Sprache darauf zu bringen.
»Ich suche etwas«, erwiderte sie leise, fast als schäme sie sich dafür.
Hagen lachte grimmig auf. »Hoffentlich ist es groß genug, daß ich es bemerke, wenn ich dagegenlaufe.«
»Aber ja doch.« Ohne auf seinen sarkastischen Tonfall einzugehen, nahm sie eine Hand vom Zügel und legte sie auf seinen Oberschenkel, ganz unschuldig, wie er annahm. »Vielleicht kannst du auf dem rechten Auge wieder sehen, bis wir es gefunden haben.«
»Was ist es denn?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Das Herbsthaus.«
»Herbsthaus?« Er überlegte, ob und wann er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. »Was ist das?« fragte er schließlich.
»Ein...« Sie lachte plötzlich. »... nun, ein Haus. Ich weiß nicht, wo es steht, aber ich werde es wissen, wenn wir in seiner Nähe sind.«
Sie war ein wenig verdreht im Kopf, kein Zweifel. Vielleicht nicht völlig verrückt, wenn auch alles andere als gewöhnlich. Blieb jedoch die Tatsache, daß sie sein Leben gerettet hatte.