»Wie soll ich dir dabei helfen?« wollte er wissen.
»Du mußt mich beschützen.« Sie erklärte eilig, was sie damit meinte, bevor er abermals auf seine Blindheit anspielen konnte: »So lange sich uns niemand direkt entgegenstellt, wird keiner bemerken, daß du nichts sehen kannst. Jeder wird glauben, ich sei in der Begleitung eines mächtigen Kriegers. Wenn du auch kein Ritter bist, so siehst du doch wenigstens aus wie einer.«
»Vielen Dank«, brummte er dumpf unter seinem Helm.
»Das ist mein Ernst. Keiner wird bemerken, daß ich es bin, die das Pferd lenkt. Alle werden glauben, daß ich hinter dir sitze, weil ich unter deinem Schutz stehe.«
Er fand das reichlich albern, widersprach aber nicht. »Denkst du dabei an jemanden, den du kennst?«
Es war nur ein Verdacht gewesen, aber er traf genau ins Schwarze.
Sie klang merklich kleinlaut, als sie antwortete: »Es gibt da jemanden... Er verfolgt mich.«
»Wer? Und viel wichtiger: Warum?«
»Sein Name ist Morten von Gotenburg.«
»Ein verflossener Liebhaber?«
»Nein.« Sie machte eine lange Pause, bis Hagen schon glaubte, sie wolle gar nichts mehr sagen. Die Erinnerung an den Mann schien ihr weh zu tun. Schließlich aber fuhr sie fort: »Er ist Magier.«
»Magier?« entfuhr es Hagen belustigt. »Ein Kerl mit spitzem Hut und bunten Pulvern, die zischen, wenn man sie anzündet?« Er traute sich zu, eine solche Gestalt sogar blind zu bezwingen.
Ihr Kinn stieß an seinen Rücken, als sie den Kopf schüttelte. »Er nennt sich nicht selbst so. Andere haben ihn einen Magier geschimpft, einen Hexer, Teufelsanbeter - und Schlimmeres.«
»Was will er von dir?«
»Mich vernichten.« Das war es tatsächlich, was sie sagte: vernichten, nicht töten.
»Aus welchem Grund?«
»Morten braucht keinen Grund, um etwas zu tun.« Das klang wenig überzeugend, und sie bemerkte es selbst, denn gleich darauf fügte sie hinzu: »Zumindest sind es Gründe, die niemand sonst versteht.«
Hagen schnaubte. »Hör zu, Mädchen. Wenn ich für dich kämpfen soll, dann mußt du -«
Sie schnitt ihm mit spitzer Zunge das Wort ab: »Du sollst nicht für mich kämpfen. Du kannst gar nicht kämpfen, Hagen von Tronje - schon vergessen? Ich will nur, daß du mit mir gesehen wirst. Deine Anwesenheit allein -«
Er riß ihr grob die Zügel aus der Hand und brachte abrupt das Pferd zum Stehen. Der Hengst gehorchte mit widerwilligem Schnauben. Obwohl Hagen nur Schwärze sah, fuhr er im Sattel herum.
»Wenn dir daran liegt mich zu demütigen, können wir unsere Reise hier und jetzt beenden.« Er sprach leise, mit gefährlicher Eindringlichkeit.
Sie preßte ihren Oberkörper enger an seinen Rücken, doch durch das Kettenhemd fühlte er sie kaum. Vielleicht war sie noch jünger, als er angenommen hatte. Oder einfach nur mager.
»Du mußt bei mir bleiben.« Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton bekommen, der Hagen noch weniger gefiel als ihre herausfordernde Keßheit; er erinnerte Hagen daran, daß er in ihrer Schuld stand. »Es genügt, wenn man sieht, daß du bei mir bist«, fuhr sie fort. »Kein Wegelagerer wird sich heranwagen, und damit ist schon viel gewonnen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich auf meiner Reise alles erdulden mußte. Immer auf der Flucht, wenn nicht vor Morten, dann vor Kerlen, die glaubten, ich sei Freiwild für ihre Begierde. Du mußt mir helfen, Hagen.«
Er zögerte einen Moment, dann gab er ihr die Zügel zurück. »Ja«, sagte er nur.
Sein Grimm war keineswegs verflogen, aber seine Ehre gestattete keine andere Entscheidung. Und noch war seine Dankbarkeit ihr gegenüber mehr als eine lästige Pflicht. Er konnte nicht abstreiten, daß er sie mochte.
»Wie alt bist du?« fragte er, als sie weiterritten. Er hoffte, sie würde es nicht falsch verstehen.
»Alter als du denkst.«
»Was für eine Antwort ist das?«
»Eine ehrliche.« Sie kicherte spielerisch. »Aber um die ganze Wahrheit zu sagen, so genau weiß ich mein Alter gar nicht.«
»Wer waren deine Eltern? Wo bist du aufgewachsen?«
Es wurde allmählich zur schlechten Angewohnheit, daß sie eine kleine Ewigkeit schwieg, bevor sie sich zu einer Erwiderung auf seine Fragen durchrang. Lange ritten sie wortlos dahin, und Hagen lauschte auf den ruhigen Trab des Pferdes. Sie mußten sich wieder auf grasbewachsenem Boden befinden, denn die Hufschläge klangen gedämpfter, nicht mehr so hart wie auf Stein. Ein scharfer Wind pfiff über das Bergland. Ein Rascheln von Blättern war nirgends zu vernehmen, so daß Hagen vermutete, daß es hier keine Bäume gab.
Er nahm sich vor, Nimmermehr zu bitten, ihm das Gelände zu jeder Zeit zu beschreiben - auch um etwaigen Hinterhalten zu entgehen.
Bevor er aber den Gedanken aussprechen konnte, sagte sie unvermittelt: »Meine Eltern sind tot. Und tot ist auch der Ort, an dem sie lebten.«
Er sagte nicht, daß es ihm leid tat. »Ich dachte schon, du seist vom Pferd gefallen. Ich hab dich gar nicht mehr gehört.«
»Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte sie.
»Ich glaube nicht, daß ich viel für einen Handel übrig habe, den du mir vorschlagen könntest.« Sein linkes Auge begann wieder zu schmerzen. »So, wie ich es sehe, ist noch nicht einmal unser erster Handel beendet.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast mir das Leben gerettet, damit ich in deiner Schuld stehe. Sie ist noch nicht abgetragen. Ist das etwa kein Handel?«
Sie widersprach nicht, obgleich er das erwartet hatte. Das kleine Biest war aufrichtig - wenigstens in diesem Punkt. »Ich meine nicht diese Art von Geschäft«, sagte sie. »Es ist viel einfacher. Wir werden nur reden.«
»Das tun wir doch längst.« Der Drang, sein schmerzendes Auge zu massieren, wurde übermächtig, aber der Helm war im Weg. »Ich rede zuviel und du zuwenig.«
Sie lachte leise. »Hör zu: Du erzählst mir ein Geheimnis aus deiner Vergangenheit, und dafür wirst du eines von mir erfahren.«
»Wer sagt dir denn, daß mir überhaupt der Sinn nach deinen Geheimnissen steht?«
Sie ließ das Pferd langsamer laufen, wahrscheinlich wurde das Gelände wieder schwieriger. »Wir können uns auch anschweigen, bis dein Auge besser wird. Wenn dir das lieber ist...«
Er seufzte schwer. Hoffte, das würde ihr zeigen, daß er sich nur auf ihren Vorschlag einließ, um ihr einen Gefallen zu tun. »Einverstanden. Erzähl mir dein Geheimnis.«
»Du fängst an«, widersprach sie.
»Warum ich?«
»Weil mein Geheimnis das Aufregendere ist.«
Er überlegte, ob er sich wirklich auf dieses Kinderspiel einlassen sollte. Sicher, er hätte ihr einfach irgendeine Lüge auftischen können, aber er dachte sich, daß sie das nicht verdient hatte.
Sie hat dir das Leben gerettet, wiederholte eine lästige Stimme in seinem Kopf, immer wieder und wieder: dein Leben gerettet.
»Was willst du hören?« preßte er schließlich hervor.
»Die Wahrheit.« Sie schien genau zu wissen, was in seinem Inneren vor sich ging.
»Unter einer Bedingung«, verlangte er. »Du wirst mich nicht unterbrechen und keine Fragen stellen, die über das hinausgehen, was ich dir erzähle.«
»Mein Ehrenwort«, sagte sie.
»Vorher will ich ganz genau wissen, durch was für eine Landschaft wir reiten. Und sobald sich etwas daran ändert, muß ich es erfahren.«
»Ich dachte, ich soll dich nicht unterbrechen«, bemerkte sie spöttisch. Dann schien sie sich umzuschauen, denn es dauerte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Über den Boden kriechen Eidechsen. Sie sind ziemlich klein und gelb und haben schwarze Punkte. Sie verstecken sich in kleinen Erdspalten, wenn wir vorbeireiten, und ihre Krallen auf den Steinen machen lustige Geräusche. Die Ränder der Spalten sind dunkelbraun, aber ihr Inneres ist schwarz und -«
»Ich wollte es nicht so genau wissen.«
Nimmermehr kicherte, ganz das junge Mädchen. »Wir reiten durch ein Talkessel, oben in den Bergen. Alles ziemlich felsig und zerklüftet, kaum Bäume, nur Heidekraut und Steine, dazwischen Büsche mit langen Dornen; ich weiß nicht, wie sie heißen. Es ist bald Mittag, die Sonne steht schon hoch am Himmel. Von Süden ziehen dunkle Wolken auf, kann sein, daß es am Nachmittag regnen wird.« Sie stockte, holte tief Luft und fragte dann: »Recht so?«