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Als Hagen nickte, klirrte sein Helmrand auf das Kettengewebe seines Rüstzeugs. Nimmermehr lachte abermals, sagte aber nichts mehr. Sie schien mit einemmal in alberner Stimmung zu sein, als freue sie sich über irgend etwas.

»Was ist los?« fragte Hagen mürrisch. »Irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Ich bin gespannt auf dein Geheimnis.« Sprach’s und kicherte erneut.

»Es ist nicht besonders erheiternd«, zischte er böse.

Sie räusperte sich und wurde ernst. »Verzeih mir.«

Hagen zögerte ein letztes Mal, dann sagte er sich erneut, fast beschwörend, daß es nichts ausmachte, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Sollte sie es sich anhören und selbst entscheiden, was davon zu halten war. Sie war der erste Mensch, dem er davon erzählte; nicht einmal Dankwart kannte die ganze Geschichte.

Hagen holte tief Luft, begann.

Er erzählte ihr von der Nacht, als in der Burg seiner Ahnen ein großes Fest begangen wurde. Er und sein Bruder waren vor dem Trubel geflohen und hatten vor den Toren herumgetollt. Nach wochenlangem Regen und der Schneeschmelze im Gebirge war ein verheerendes Hochwasser über die Länder am Fluß hereingebrochen, und die Kinder hatten es als besonderes Wagnis angesehen, sich dem verbotenen Ufer zu nähern.

Hagen berichtete Nimmermehr von dem angetriebenen Wrack, von seinem Plan, hineinzuklettern, und schließlich von seiner Irrfahrt den Strom hinab. Er sprach auch, stockend, von seiner Kletterpartie in den leeren Rumpf und dem unheimlichen Tannenzirkel, dessen Wipfel das Wrack aufgehalten hatten. Er beschrieb ihr das goldene Geschmeide in den Ästen, den Reiz, den es auf einen kleinen Jungen ausgeübt hatte, die unbändige Freude, als es ihm gelungen war, den Schatz für sich zu gewinnen.

Dann aber verfiel er in Schweigen.

Nimmermehr rutschte ungeduldig auf dem Pferderücken umher, wagte aber nicht, ihre Vereinbarung zu brechen: keine Fragen, bevor die Erzählung nicht zu Ende war.

Es dauerte lange, ehe Hagen sich überwandt, seinen Bericht fortzuführen. Der eisige Wind, der den Talkessel peitschte, kroch durch die Eisenmaschen seines Kettenhemdes, durch sein ledernes Wams bis zur Haut. Er fror plötzlich erbärmlich, und die Finsternis vor seinen Augen gewann an neuerlicher Tiefe. Seine Blindheit wurde wieder zum Abgrund, schwarz und hungrig und bodenlos.

Und während er sprach, glaubte er erneut zu spüren, wie etwas daraus zu ihm emporblickte, wie es langsam begann, zu ihm aufzusteigen, ohne Beine, ohne Augen, die Kehrseite seiner Seele.

Oder, viel schlimmer noch: die Seele selbst.

Kapitel 2

»Hagen!« rief eine Stimme. Sein Name. Der Junge schlug die Augen auf, blickte in ein Rund von Gesichtern. Sein Bruder Dankwart war unter ihnen, aber nur klein, ganz am Rand. Da war sein Vater, grimmig und mit aufgerissenem Mund; er war es, der gerufen hatte, und so wie es aussah, nicht zum ersten Mal. Seine Mutter stand auch dabei, verschlossen wie immer, mit grauem, unglücklichem Gesicht. Der Burgpfaffe Viggo, schmal und faltig, einer, den niemand ernstnahm. Daneben ein weiterer Mann, Bärbart, der sich auf Arzneien verstand, halb Wunderheiler, halb Gelehrter. Und natürlich Tilda, die Amme der beiden Brüder.

»Hagen!« grollte Adalmar von Tronje erneut, und als er sah, daß sein Sohn ihn hörte, tastete sich ein rauhes Lächeln auf sein Gesicht.

Nachdem die erste Aufregung über Hagens Erwachen abgeklungen, das Ritual des gegenseitigen Schulterklopfens vollzogen und das Lobpreisen der Tronjeschen Zähigkeit vorüber war, durfte Hagen sich im Bett aufsetzen. Tilda, die Amme, sorgte dafür, daß sich ihr Schützling dabei nicht mehr als unbedingt nötig bewegte.

Pfaffe, Medicus und Hagens Mutter wurden aus dem Zimmer gewiesen, Tilda folgte unter leisem Widerspruch nach. Zurück blieben Graf Adalmar und seine Söhne.

»Bärbart hat einen Baum für dich bereitet«, knurrte der Graf.

Hagen erbleichte. Er wußte, was die Worte seines Vaters zu bedeuten hatten. Sie machten ihm angst.

»Ich will vorerst auf eine Strafe verzichten«, fuhr Adalmar fort, in einem ganz und gar unerhörten Anflug von Großmut. »Sechs Tage hast du dagelegen wie ein besoffener Bauernknecht, das ist wohl erst einmal Züchtigung genug.« Er grummelte etwas vor sich hin, das keiner seiner beiden Söhne verstand, dann sagte er: »Wärest du wenigstens betrunken gewesen, ich könnte verstehen, was geschehen ist. Alle könnten das. Aber so? Ein wenig Wasser geschluckt, erschöpft natürlich - doch sechs Tage Bewußtlosigkeit? Keiner kann das begreifen. Entweder man ersäuft, oder man ersäuft nicht. Aber so etwas...« Er schüttelte verständnislos den Kopf.

Nun hatte weder Adalmar von Tronje noch einer seines Hofstaates, sogar der kluge Bärbart, allzuviel Ahnung von Belangen der Gesundheit, die über Jagdunfälle und das ein oder andere Fieber hinausgingen. Doch eine Ohnmacht von sechs Tagen, ohne daran zu sterben, das war allerdings ungewöhnlich. Hagen hatte fast den Eindruck, allen wäre es lieber gewesen, er wäre gar nicht mehr erwacht - wenigstens wäre dann alles mit rechten und bekannten Dingen zugegangen.

»Ich...« brachte er schwerfällig hervor, als müßte er erst wieder das Sprechen erlernen. »Ich... kann mich nicht erinnern.«

»Erinnern?« fuhr Adalmar auf. »Dankwart hat mir alles erzählt. Ihr wart am Wasser, und eine Welle hat dich hineingerissen. Dankwart hat ein Pferd aus dem Stall geholt und ist der Strömung nachgeritten. Irgendwann hat er dich angeschwemmt am Ufer gefunden und nach Hause gebracht.« Er wandte sich an Hagens Bruder und hob eine buschige Augenbraue. »War es nicht so?«

»Genau so«, bestätigte Dankwart, ohne eine Miene zu verziehen.

Hagen schluckte. »Ja, ich glaube, jetzt fällt es mir wieder ein.«

Die Wahrheit war, er erinnerte sich an nahezu alles - bis zu dem Moment, da das Wasser unter ihm zu gefrieren schien. Was dann geschehen war, blieb ihm rätselhaft. Er wußte noch, daß da etwas gewesen war, doch der Gedanke an die unvorstellbare Kälte des Flusses ließ ihn so sehr frösteln, daß er die Vorstellung eilig verdrängte. Aber war es wirklich die Erinnerung an das Wasser, die ihn zittern ließ? Oder war da -

»Der Baum kann warten«, unterbrach Adalmar Hagens Gedankenfluß. Er wuchtete seinen Leib vom Stuhl und trat zur Kammertür. »Ruh dich noch ein wenig aus. Heute abend ist Zeit genug für Bärbarts Wunder.«

Damit verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Die Brüder lauschten seinen schweren Schritten, die sich langsam den Gang hinab entfernten. Erst als Hagen sicher war, daß sein Vater sie nicht mehr hören konnte, ließ er seine Hand vorschnellen und packte Dankwarts Unterarm.

»Wo ist das Gold?« Seine Stimme klang jetzt viel fester und entschlossener als noch vor wenigen Augenblicken.

Dankwart blickte erstaunt auf die blutleeren Furchen, die Hagens Finger in seinen Arm preßten. Dann schaute er seinem Bruder in die Augen. »Welches Gold?«

Hagen starrte zurück, bis beide den Blick des anderen nicht mehr ertragen konnten und sich gleichzeitig abwandten - ein Spiel, das sie den Erwachsenen abgeschaut hatten. »Ich hatte Gold bei mir, als ich im Wasser schwamm. Viel Gold.«

»Von dem Boot?« Dankwarts Stirn glänzte vor Aufregung. Er sah aus, als hoffte er ein spannendes Abenteuer zu hören, schien überhaupt nicht zu begreifen, wie ernst es seinem jüngeren Bruder war.

Hagen überlegte noch einen Moment, dann schob er den Gedanken an den Schatz für eine Weile beiseite und fragte statt dessen: »Hast du mich wirklich am Ufer gefunden?«