Ein paar Tage später erhielt er mit einem Eilboten eine Nachricht von Lord Moaris, der ihm mitteilte, daß er beschlossen habe, Barr Herndon von Zonnigog in sein engeres Gefolge aufzunehmen und daß er von Herndon erwartete, dem Seigneur Krellig den entsprechenden Respekt zu erweisen.
Die Einladung des Seigneurs kam noch am gleichen Tag, wurde von einem vornehmen toppidanischen Läufer überreicht, und in ihr erwartete der Seigneur, daß Herndon bereits am nächsten Abend zu einem Empfang erscheinen sollte, wollte er nicht den Seigneur unsterblich beleidigen. Herndon jubelte innerlich. Jetzt hatte er die höchste Stufe der Erfolgsleiter auf Borlaam erreicht. Dies war der Höhepunkt all seiner Pläne.
Eingehend bereitete Herndon sich auf sein Erscheinen bei Hofe vor. Er suchte einen Barbier auf, ließ sich einen künstlichen Bart anlegen, wie es viele Höflinge taten, die zwar keinen echten Bart mochten, sich aber doch nach der neuesten Mode kleiden wollten. Herndon wurde gebadet und balsamiert, legte dann seine eintausend Stellars teure Robe an, die er sich extra für dieses Ereignis schon Wochen vorher gekauft hatte. Sie war über und über mit teuren Edelsteinen und seltenem Metall besetzt. Und er ging ebenfalls sicher, daß die chirurgischen Veränderungen, die an ihm vorgenommen worden waren, auch ihre Wirkung tun würden, wenn die Zeit gekommen war.
Der Abend brach herein, Mondlicht überflutete Borlaam. Über dem Schloß von Seigneur Krellig wurde ein gigantisches Feuerwerk abgebrannt, das anzeigte, das heute der Geburtsmonat des Herrn von Borlaam begann.
Herndon schickte nach einem Gleiter, den er schon vorher bestellt hatte; vor seinem Haus erschien ein vierstrahliges Fahrzeug, mit dem er seine schäbige Unterkunft kurz darauf verließ. Der Gleiter raste hinauf in den Himmel — zwölf Minuten später setzte er über dem Großen Palast von Borlaam zur Landung an. Der Palast, mehr eine Festung, war auf dem Hügel des Feuers, einem beinahe uneinnehmbaren Berg am Rand der großen Stadt, erbaut worden.
Von allen Seiten erhellte Flutlicht die gigantischen Gebäude. Jeder andere wäre von diesem überwältigenden Anblick vielleicht beeindruckt gewesen; Herndon verspürte eher zunehmende Wut. Seine Familie hatte einstmals in einem ähnlichen Gebäude gelebt — zwar nicht so groß, aber die Menschen von Zonnigog waren bescheidener und weniger anspruchsvoll in ihren Wünschen als die Bewohner von Borlaam. Aber es war ein Palast gewesen, bis Krelligs Horden ihn geschleift hatten.
Herndon verließ sein Fahrzeug, präsentierte den Wachen des Seigneurs seine Einladung. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß er keine verborgenen Waffen bei sich trug, ließen sie ihn passieren; er wurde in ein Vorzimmer geführt, in dem der Lord Moaris ihn erwartete.
»Sie sind also Herndon«, sagte Moaris nachdenklich. Er blinzelte und zupfte sich am Bart.
Herndon ging auf ein Knie hinunter. »Ich danke für die Ehre, die Sie mir erwiesen haben, Sire.«
»Keine Ursache«, schnaufte Moaris. »Meine Frau bat mich, Ihren Namen mit auf die Einladungsliste zu setzen. Aber ich nehme an, daß Sie das ja wissen. Sie kommen mir bekannt vor, Herndon. Wo habe ich Sie schon mal gesehen?«
Wahrscheinlich wußte Moaris, daß Herndon zu seinen Bediensteten gehörte. Aber er sagte nur: »Ich hatte einmal die Ehre, auf einer Auktion wegen eines gefangenen Proteus gegen Sie zu bieten, Mylord.«
Ein Schimmer der Erinnerung fuhr über Moaris Gesicht, und er lächelte kalt. »Ich glaube, ich erinnere mich.«
Ein Gong ertönte.
»Wir dürfen den Seigneur nicht warten lassen«, sagte Moaris. »Kommen Sie.«
Gemeinsam begaben sie sich in den großen Saal zum Seigneur von Borlaam.
Moaris trat als erster ein, wie es seinem Rang zukam, nahm seinen Platz zur Linken des Monarchen ein, der auf einem erhöhten Thron aus Gold saß. Herndon kannte das Protokoll — er kniete sofort nieder.
»Erhebe dich«, befahl der Seigneur. Seine Stimme war ein trockenes Flüstern, das kaum hörbar war. Herndon stand auf und starrte Krellig gleichmütig an.
Der Monarch war ein kleiner, hutzliger, fleischloser Mann; fast schien es, als habe er einen Buckel. Zwei wäßrige, kranke Augen schimmerten in einem runzligen, verbrauchten Gesicht. Krelligs Lippen waren schmal und blutleer, seine Nase ein kühner Haken, sein Kinn scharf und kantig.
Herndon ließ seinen Blick in die Runde gehen. Die Halle war sehr groß, wie er es schon erwartet hatte; gigantische Säulen stützten die Decke; an den Wänden standen mehrere Reihen von Höflingen. Frauen waren zu Dutzenden dabei — vermutlich die Gespielinnen des Seigneurs.
In der Mitte des Saales hing etwas, das wie ein großer Käfig wirkte, der über und über mit dickem Samt behangen war, so daß man nichts darunter erkennen konnte. Vermutlich lauerte irgend ein Spieltier des Seigneurs darin, überlegte Herndon, höchstwahrscheinlich ein villidonischer Gyrfalke mit riesigen Krallen.
»Willkommen bei Hof«, murmelte der Seigneur. »Sie sind der Gast meines Freundes Moaris, nicht?«
»Jawohl, Sire«, sagte Herndon. In der Stille des Saales echote seine Stimme mehrmals von den Wänden.
»Moaris wird uns heute einige Unterhaltung bieten«, fuhr der Monarch fort. Er schien innerlich schon höchst erfreut über das zu sein, was ihn erwartete. »Wir sind Ihrem Gönner, dem Lord Moaris, äußerst dankbar für die Freude, die er uns heute nacht bereiten wird.«
Herndon runzelte die Stirn. Er fragte sich, ob er vielleicht die Quelle dieses Vergnügens sein sollte. Allerdings fürchtete er sich nicht davor — bevor dieser Abend noch vorüber sein würde, würde er sich auf Kosten aller hier Anwesenden ebenfalls amüsiert haben.
»Hebt den Vorhang«, befahl Krellig.
Aus zwei Ecken des Thronsaals kamen zwei Toppidaner hervor und zogen dann zugleich an schweren Seilen, die mit den Decken über dem Käfig in der Mitte verbanden waren. Langsam hoben sich die schweren Tücher, legten einen Käfig frei.
In dem Käfig befand sich ein Mädchen.
Sie hing mit den Handgelenken an einer Stange am oberen Ende des Käfigs, sie war nackt. Die Stange drehte sich langsam, wobei der Eindruck entstand, das Mädchen werde wie auf einem Bratspieß gewendet. Herndon erstarrte, erkannte plötzlich den nackten Körper, der dort oben leblos hing.
Er kannte ihn nur zu gut — das Mädchen in dem Käfig war Lady Moaris.
Seigneur Krellig lächelte gütig, murmelte dann leise: »Moaris, Sie sind jetzt dran. Die Zuschauer warten.«
Langsam begab sich Moaris in die Mitte des Thronsaals. Der Marmor unter seinen Stiefeln funkelte, seine Schritte hallten durch den Raum.
Dann wandte er sich in Richtung Krellig um, seine Stimme klang ruhig. »Meine Damen und Herren vom Hof des Seigneurs, ich bitte um Erlaubnis, vor Ihnen ein Stück meiner privaten Angelegenheiten ausbreiten zu dürfen. Die Dame in dem Käfig ist, wie den meisten von Ihnen inzwischen bekannt sein dürfte, meine Frau.«
Ein leises Raunen ging durch die Reihen des Gefolges. Moaris machte eine Handbewegung, und ein Scheinwerfer strahlte die Frau im Käfig an.
Herndon erkannte, daß ihre Handgelenke blutig-rot waren, und daß die Adern ihrer Arme bereits weit hervorstanden. Langsam drehte sie sich mit der Stange im Käfig herum. Schweiß lief ihren Rücken hinunter, und das rasselnde Atmen war in der Stille deutlich zu vernehmen.
Gleichmütig fuhr Moaris fort: »Meine Frau ist mir untreu gewesen. Ein ergebener Diener informierte mich vor kurzer Zeit davon — sie hat mich mehrmals mit einem Angehörigen meines Hofes, einem Knecht oder Diener, betrogen. Als ich sie danach fragte, leugnete sie es nicht. Der Seigneur« — er verbeugte sich in Richtung des Thrones —, »hat mir die Erlaubnis erteilt, sie hier zu züchtigen, was Ihnen vielleicht ein wenig Unterhaltung bietet.«