»Natürlich«, sagte Oversk. »Sie übernehmen Mardlins Stelle als Kurier. War Ihnen das nicht gleich klar?«
Natürlich hatte Herndon damit gerechnet, aber es gefiel ihm gar nicht. Er wollte auf Borlaam bleiben, jetzt, da er Kontakt mit Lady Moaris hatte. Er wollte seinen Aufstieg bis hin zu Krellig beginnen. Und wenn er ständig zwischen Vyapore und Borlaam unterwegs war, würden alle wichtigen Kontakte, die er bereits besaß, verlorengehen.
Aber Lady Moaris würde in frühestens zwei Monaten auf Borlaam zurück sein. Er konnte also noch eine Rundreise für die Organisation machen, ohne seine Position ernsthaft zu gefährden. Danach würde er einen Weg finden müssen, die Organisation zu verlassen. Natürlich konnten sie ihn zwingen, dabeizubleiben, wenn sie wollten, aber…
»Wann mache ich die nächste Reise?« fragte er.
Benjin zuckte die Schultern. »Morgen, nächste Woche, nächsten Monat — wer weiß das? Die nächste Reise ist nicht eilig. Sie können Urlaub machen, während wir diese Steine verkaufen.«
»Nein«, sagte Herndon. »Ich will sofort wieder los.«
Oversk runzelte die Stirn. »Gibt es einen Grund für diese Eile?«
»Ich möchte derzeit einfach nicht auf Borlaam bleiben«, sagte Herndon. »Es besteht kein Zwang, mich weiter zu erklären. Ich hätte große Lust, noch eine Reise nach Vyapore zu machen.«
»Er ist eifrig«, sagte Benjin. »Ein gutes Zeichen.«
»Mardlin war anfangs auch so«, bemerkte Oversk unheilvoll.
Im gleichen Augenblick war Herndon aus seinem Sitz heraus. Sein Nadler berührte Oversks Adamsapfel.
»Wenn Sie mit diesem Vergleich andeuten wollen, daß…«
Benjin zog Herndon am Arm. »Setzen Sie sich, und beruhigen Sie sich. Heitman ist heute müde, und die Worte sind ihm so herausgerutscht. Wir vertrauen Ihnen. Stecken Sie den Nadler weg.«
Zögernd senkte Herndon die Waffe. Oversk, der trotz seiner Bräune im Gesicht plötzlich blaß wirkte, fuhr sich mit der Hand über die Stelle, an der Herndons Waffe ihn berührt hatte. Er schwieg. Herndon bedauerte seine übereilte Reaktion und beschloß, keine Entschuldigung zu verlangen. Oversk konnte ihm noch nützlich werden.
»Das Wort eines Weltraumtramps gilt«, sagte Herndon. »Ich habe nicht vor, zu betrügen. Wann kann ich abreisen?«
»Morgen, wenn Sie wollen«, sagte Benjin. »Wir werden Brennt informieren, eine weitere Ladung für Sie bereitzuhalten.«
Diesmal reiste Herndon an Bord eines Transportschiffs, denn zu dieser Jahreszeit waren keine kostenlose Flüge im Gefolge von Edelleuten zu bekommen. Nach etwas mehr als einem Monat erreichte er die Dschungelwelt erneut. Brennt hielt zweiunddreißig glitzernde Sternsteine für ihn bereit, jeden einzeln in einer Schutzfolie verpackt, jeder dazu gedacht, einem Menschen durch seine Träume den Verstand zu rauben.
Herndon holte die Steine ab und arrangierte eine Überweisung von zweihundertsechsundfünfzigtausend Stellars an Brennt. Brennt beobachtete Herndon während der ganzen Zeit mit äußerstem Mißtrauen und Angst, denn es war offensichtlich, daß der Vyaporaner um sein Leben fürchtete. Dafür würden diesmal auch keine falschen Steine dabei sein. Die beiden Männer verloren kein Wort über Mardlin oder sein Schicksal.
Mit seiner wertvollen Fracht kehrte Herndon etwa vier Wochen danach von Diirhav, einer recht bevölkerten Nachbarwelt Vyapores, nach Borlaam zurück. Er hatte nicht auf das nächste Frachtschiff warten können und daher ein Schiff der Zweiten Klasse benutzt, was sehr viel teurer war. Als er wieder nach Borlaam kam, war die Lady Moaris bereits einige Wochen zurück. Er hatte dem Steward versprochen, wieder in die Dienste der Moaris zu treten, und es war ein Versprechen, das er halten wollte.
Inzwischen war es auf Borlaam Winter geworden. Jeden Tag hagelte es über der Hauptstadt und ihrer Umgebung, und alles wurde mit eisigen, messerscharfen Eisteilchen überzogen. Die Leute rückten enger zusammen und warteten sehnsüchtig darauf, daß der Winter bald vorbei sein mochte.
Herndon marschierte nach seiner Ankunft durch die vereiste Bronze-Avenue, auf deren Pflaster sich das Licht des bleichen Mondes von Borlaam brach. Oversk nahm die Lieferung entgegen; Benjin würde in Kürze in der Wohnung eintreffen. Er hatte in wichtigen Angelegenheiten außerhalb zu tun.
Herndon setzte sich an eine beheizte Wand und trank einen Becher nach dem anderen von Oversks teurem Thruzischen Wein, um die Kälte in seinem Körper zu vertreiben. Dorgel traf nach einer Weile ein, gefolgt von Marya und Razumond, und gemeinsam untersuchten sie die neue Lieferung Sternsteine, die Herndon mitgebracht hatte; dann verstauten sie die Steine bei den restlichen der letzten Sendung.
Endlich traf Benjin ein. Der kleine Mann war von der Kälte wie betäubt, aber seine Stimme klang warm, als er sagte: »Der Vertrag ist perfekt, Oversk! Oh, Herndon, Sie sind wieder da, wie ich sehe. War es eine erfolgreiche Reise?«
»Sehr sogar«, sagte Herndon.
Oversk warf ein: »Sie haben mit dem Außenminister gesprochen, nehme ich an. Nicht mit Krellig persönlich.«
»Natürlich nicht. Würde Krellig jemanden wie mich vor sich laden?«
Herndon horchte bei der Nennung des Namens seines Erzfeindes auf. »Was war das mit dem Seigneur?« fragte er.
»Ein kleines Geschäft«, kicherte Benjin. »Ich habe während Ihrer Abwesenheit einige sehr delikate Verhandlungen geführt. Und heute habe ich den Vertrag unterschrieben.«
»Was für einen Vertrag?« bohrte Herndon.
»Wir haben jetzt königlichen Schutz, wie es scheint. Der Seigneur Krellig ist persönlich in das Sternsteingeschäft eingestiegen. Nicht als unser Konkurrent, versteht sich. Er hat sich praktisch bei uns eingekauft.«
Herndon hatte das Gefühl, als würden einige seiner inneren Organe plötzlich zu Blei. »Und wie lauten die Bedingungen der Abmachung?« fragte er mit eisiger Stimme.
»Ganz einfach. Krellig hat eingesehen, daß der Handel mit Sternsteinen, wenn schon illegal, so doch nicht zu verhindern ist. Bevor er aber das Gesetz ändert und den Handel legalisiert — was in moralischer Hinsicht sehr unerwünschte Folgen haben könnte, und was außerdem den Preis für die Steine sehr drücken würde —, beauftragte er den Lord Moaris, Kontakt mit einer Gruppe von Schmugglern aufzunehmen, die für die Krone zu arbeiten bereit sind. Moaris kam dabei natürlich auf seinen Bruder. Oversk zog es vor, mir die Verhandlungen zu überlassen, und in den letzten Monaten habe ich Geheimverhandlungen über einen solchen Vertrag mit dem Außenminister von Krellig geführt.«
»Und wie lauten die Bedingungen?«
»Krellig garantiert uns, daß wir keinerlei Strafverfolgung zu befürchten haben, während er zugleich kräftig auf unsere Konkurrenz einschlagen wird. Er überläßt uns sozusagen ein Sternsteinmonopol, und damit werden wir in der Lage sein, unseren Preis, den wir Brennt zahlen, zu senken, und gleichzeitig unseren Abgabepreis an unsere Kunden hier zu erhöhen. Als Gegenleistung dafür führen wir acht Prozent unseres Bruttogewinns an den Seigneur ab und verpflichten uns, ihm jährlich sechs Sternsteine zum Einkaufspreis zu liefern. Natürlich geht unser Treueschwur, den wir der Organisation gegenüber geleistet haben, an den Seigneur über. Er bekommt die Kontrolle über unsere Loyalität.«
Herndon saß wie betäubt da, seine Handflächen waren kalt, ihn fröstelte am ganzen Körper. Loyal gegenüber Krellig, seinem Feind, den er geschworen hatte, umzubringen?
Der Widerstreit ließ seine Gedanken rasen. Wie sollte er seinen früheren Schwur einhalten, wenn diese neue Situation dem völlig konträr gegenüberstand? Die Weitergabe der Loyalität war eine übliche Sache auf dieser Welt. Durch Benjins Vertragsbedingungen war Herndon jetzt ein auf den Seigneur eingeschworener Vasall.
Tötete er Krellig, würde das seinen Schwur verraten. Diente er dem Seigneur mit aller Kraft, so mußte er seinen eigenen Schwur brechen und seine Eltern und seine Heimat ungesühnt lassen; ein unerträgliches Dilemma. Herndon zitterte am ganzen Körper.