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Auf den Straßen von Whitehall machten die klappernden Hufe und polternden Räder einen ziemlichen Lärm auf dem Pflaster, als Richter Read vor dem imposanten Eingang zum Sitz der Admiralität aus der Kutsche stieg.

»Warte auf mich, Caleb«, teilte er dem Mann auf dem Bock mit. »Es dürfte nicht allzu lange dauern.«

»Wie schön, Euer Ehren«, erwiderte der Kutscher und tippte sich an den Hut.

Der Oberste Richter schwang seinen Spazierstock, durchschritt das Tor und überquerte den Vorplatz. Erst als die Gestalt im schwarzen Mantel außer Sicht war, stieg der Kutscher vom Bock, holte den Futtersack aus dem Kasten und hängte ihn der Stute um den Hals. Dann sprang er wieder auf den Bock, nahm seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie gemächlich. Er richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, weil der Zeitbegriff des Obersten Richters in London selten mit dem anderer Menschen übereinstimmte. Doch das Warten lohnte sich allemal, denn der Richter gab großzügige Trinkgelder.

Read stieg forschen Schrittes zwischen den hohen weißen Säulen die Treppe empor und betrat das Hauptgebäude. Trotz der frühen Stunde herrschte in der Eingangshalle bereits reges Treiben. Männer in blauen Marineumformen warteten auf Korridoren und Treppen in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Adjutanten der Admiralität zu erregen, um ihr Anliegen vortragen zu können.

James Read jedoch wurde sofort von einem schwermütig aussehenden Leutnant unter den neugierigen Blicken der Wartenden zum Sitzungssaal geleitet, wo er vom Adjutanten des Admiralstabs empfangen wurde. Erst dort brach der Leutnant sein Schweigen, salutierte, wünschte dem Obersten Richter einen guten Tag und entfernte sich rasch.

Beim Betreten des Saals registrierte Read nicht zum ersten Mal, wie räumlich beschränkt das Zentrum der britischen Admiralität im Verhältnis zu seiner weltweiten Bedeutung war.

An den Wänden hingen Seekarten, und an einem Ende des Raums stand zwischen hohen, schmalen, mit Glas verkleideten Bücherregalen ein riesiger Globus. Darüber zeigte ein Kompass, der mit der Wetterfahne auf dem Dach verbunden war, stets die augenblicklich herrschende Windrichtung an. Momentan stand der Zeiger auf NNO.

Deswegen ist mir wohl so verdammt kalt, dachte Read.

Ein schwerer rechteckiger Eichentisch, umgeben von acht Stühlen, dominierte den Raum. Zwei Quasten, die an den beiden Kopfenden von der Decke hingen, dienten als Klingelzug.

Drei Männer waren anwesend; zwei saßen am Tisch, während der dritte, ein Mann in mittleren Jahren im zweireihigen Frack, am Fenster stand und hinausschaute. Jetzt drehte er sich abrupt um.

»Ah, Read! Da sind Sie ja endlich. Wird aber auch Zeit! Gibt es Fortschritte bei Ihren Nachforschungen?«

Der Erste Seelord Charles Yorke war Chef des britischen Admiralitätsstabs, außerdem Barrister und Mitglied der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften. Seine politische Karriere hatte er als Abgeordneter des Unterhauses begonnen.

Read ignorierte die in herrischem Ton vorgebrachte Begrüßung und trat gelassen an den Tisch. »Guten Morgen, Gentlemen«, sagte er höflich, worauf die beiden ernst aussehenden Männer nur stumm nickten.

»Nun, Sir?« Charles Yorke platzte vor Ungeduld. Seine Stirn warf finstere Falten und seine Unterlippe zitterte vor Wut. »Haben Sie etwas zu berichten oder nicht?«

Richter Read drehte sich um und antwortete ruhig: »Nur, dass die Ermittlungen eingeleitet wurden und ich meinen besten Mann damit beauftragt habe.«

»Und was haben Sie ihm mitgeteilt?«

»Nur das Nötigste, damit er mit den Nachforschungen beginnen kann.«

»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist?«

»Natürlich«, entgegnete Read, ohne sich von dem arroganten Auftreten Yorkes einschüchtern zu lassen. Ein leicht verärgerter Ausdruck huschte über das Gesicht des Ersten Seelords, als der Richter seinen eleganten Spazierstock auf den Tisch legte und seine Handschuhe auszog. Der Chef des Admiralitätsstabs hielt den Stock offensichtlich für ein etwas geckenhaftes Accessoire, doch bei einer näheren Inspektion des Stocks hätte er seine Meinung revidieren müssen, denn in dem Schaft steckte eine sechzig Zentimeter lange Klinge aus feinstem Toledo-Stahl. Diese Waffe war von William Parker aus Holborn speziell für James Read angefertigt worden, und der Richter wusste geschickt damit umzugehen.

Als Oberster Richter war James Read im Laufe der Jahre unzählige Male von Verbrechern, die er hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, bedroht worden. Oder Komplizen hatten ihm Rache für Bekannte und Verwandte geschworen, die gehängt, eingesperrt oder deportiert worden waren. Die meisten, im Eifer des Gefechts ausgesprochenen Drohungen wurden jedoch nie in die Tat umgesetzt, denn die Rachegelüste ließen mit der Zeit nach. Aber Read hielt es für angebracht, stets vorsichtig zu sein. Zweimal schon hatte er sich gegen Angreifer verteidigen müssen. Der erste war mit einer Fleischwunde im Bein davongehumpelt, während der zweite an einem Stich in die Lunge gestorben war. Und beide Male war Read unverletzt geblieben.

»Ist Ihr Beamter vertrauenswürdig?«, fragte der Erste Seelord unverblümt.

Erst nach einer kurzen Pause gab Read ziemlich schroff zurück: »Alle meine Beamten sind vertrauenswürdig«, und dachte: Die Runner auf jeden Fall. Für Constables und Wachmänner hingegen würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.

»Ähm, natürlich, natürlich«, lenkte Charles Yorke, plötzlich erstaunlich verbindlich, ein. »Nichts für ungut«, fügte er beschwichtigend hinzu.

»Dürfen wir den Namen dieses Mannes erfahren?« Die Frage kam von dem blonden, streng wirkenden Marineoffizier am Tisch. Drei Tressen an seinem Ärmel kennzeichneten seinen Rang.

Für den nicht ungewöhnlichen Fall, dass ein Zivilist anstelle eines Militärs Chef des britischen Admiralstabs wurde, diente ihm ein Vertreter des höchsten Dienstgrades der Marine als Berater. Also hatte Charles Yorke Admiral Bartholomew Dalryde auf diesen Posten berufen.

Vom untersten Rang eines Marineoffiziers bis zum Admiral hatte Dalryde seinem Land ehrenvoll gedient und bereits im Alter von vierundzwanzig Jahren das Kommando der Fregatte Audacious übernommen. Seitdem hatte er im Freiheitskrieg gegen die nordamerikanischen Kolonien gekämpft, unter Hood im Mittelmeer und unter Nelson am Kap St.Vincent und Kap Trafalgar.

»Er heißt Hawkwood.«

»Hawkwood?« Der zweite Mann am Tisch hob abrupt den Kopf.

»Sie kennen ihn, Blomefield?« Der Erste Seelord fixierte ihn streng.

Thomas Blomefield, der Generalinspekteur der Artillerie und Generalfeldzeugmeister war mit Ende sechzig der Älteste in der Runde. In vieler Hinsicht ähnelte seine Karriere der des Admirals. Nach seiner Ausbildung als Kadett in der Militärakademie Woolwich hatte auch er im amerikanischen Freiheitskrieg gekämpft und war bei Saratoga verwundet worden. Als Kommandant der Artillerie hatte er am Kopenhagen-Feldzug teilgenommen und war Spezialist für Kriegsgerät. Die Feldzeugmeisterei war zuständig für die Versorgung der Armee sowie der Marine mit Waffen und Munition. Blomefield kontrollierte nicht nur die Verteilung der Geschütze, sondern er konstruierte auch Waffen für die Standardausrüstung der Kriegsschiffe.

»Der Name kommt mir bekannt vor«, überlegte Blomefield stirnrunzelnd und sah James Read an. »Wie lange arbeitet er schon für Sie?«

Ein sechster Sinn warnte Read zwar, dass er sich in gefährlichen Gewässern bewegte, aber es war zu spät für einen Rückzieher. Außerdem würde die Wahrheit sowieso früher oder später ans Tageslicht kommen. Deshalb antwortete er: »Noch nicht lange. Etwas länger als ein Jahr.«

»Und was hat er davor gemacht?«

»Hawkwood hat beim Militär gedient.«

»Hawkwood?«, wiederholte der Generalinspekteur und richtete sich kerzengerade auf. »Beim 95. Rifle Regiment?«