Die Katastrophe war vorprogrammiert. Die Franzosen haben unsere Linie durchbrochen, und die Garde hat mehr als ein Viertel ihrer Männer verloren. Hätte Wellington nicht Mackenzies Brigade vorgeschickt, um die Lücke zu schließen, wären wir alle verloren gewesen.«
Blomefield schüttelte den Kopf, ehe er fortfuhr: »Mackenzie ist ebenso gefallen wie Lapisse, was meiner Meinung nach nur eine Art Gerechtigkeit war. Aber wir sind nur knapp mit einem blauen Auge davongekommen.
Wie auch immer, jedenfalls hat Captain Hawkwood am Ende dieses Tages Delancey zur Rede gestellt und ihm vorgeworfen, auf leichtfertige Weise das Leben seiner Männer aufs Spiel gesetzt zu haben. Kurz gesagt, er hat ihn einen verdammten Idioten und eine Schande für das Militär genannt und behauptet, dass es ein Segen gewesen wäre, wenn er wie die von ihm geopferten armen Kerle gefallen wäre. Und da diese Konfrontation nicht unter vier Augen stattfand, was schlimm genug gewesen wäre, sondern in Anwesenheit von Delanceys Freunden, blieb ihm nichts anderes übrig, als Hawkwood zum Duell herauszufordern.«
Als der Seelord zum Sprechen ansetzte, fügte Blomefield schnell hinzu: »Ja, die Vorschriften. Duellieren ist streng verboten, aber für Delancey war es ein Ehrenhandel. Eine Beleidigung des Familiennamens und so weiter.«
»Und Hawkwood hat ihn getötet«, konstatierte der Seelord.
»Ja. Mit einem Schuss direkt ins Herz. Offensichtlich ist unser Mann nicht nur ein exzellenter Scharfschütze, sondern er trifft auch mit einer Pistole.«
»Hat denn niemand versucht, das Duell zu verhindern?«
Blomefield schüttelte den Kopf. »Für Delanceys Freunde stand der Ausgang des Duells wohl von vornherein fest. Was sich als fataler Irrtum erwies. Natürlich gab es nur eine Konsequenz: Hawkwood hätte in Ketten nach London zurückgebracht und wegen Mordes vors Kriegsgericht gestellt werden müssen. Doch daraus wurde nichts.« Mit gesenkter Stimme fügte Blomefield hinzu: »Ich habe gehört, Wellington habe in dieser Sache persönlich interveniert.«
»Wie das?«, fragte Dalryde.
Blomefield zuckte mit den Schultern. »Niemand kennt die Hintergründe genau. Hawkwood wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen, aber nicht nach England zurückgeschickt.«
Er sah den Obersten Richter von der Seite an.
»Und was ist aus ihm geworden?«
Blomefield schürzte die Lippen. »Damals wurde gemunkelt, er sei geflohen und habe sich den Guerilleros angeschlossen.«
»Er ist zu den Spaniern übergelaufen?«, fragte der Seelord entgeistert.
»Er hat mit ihnen in den Bergen gekämpft. Hawkwood spricht angeblich nicht nur Spanisch, sondern auch Französisch.« Wieder warf Blomefield James Read einen Blick zu.
»Ob das mit Wellingtons Einverständnis geschehen ist, kann ich nicht sagen. Es hieß nur, es sei besser, einen Mann mit Hawkwoods Erfahrungen im Kampf gegen die Franzosen einzusetzen, als ihn nach England zurückzuschicken. Vielleicht wollte Wellington mit ihm eine Art Verbindungsmann
schaffen – womit wir bei Colquhoun Grant wären.« Stirnrunzelnd fuhr der Generalinspekteur fort: »Es kursiert ein weiteres Gerücht um einen Sergeant und mehrere ausgewählte Männer, die aus Hawkwoods Kompanie desertiert und ihm in die Berge gefolgt sind. Wie auch immer, jedenfalls war Captain Hawkwood wie vom Erdboden verschluckt und blieb verschwunden – bis jetzt.«
Es folgte ein langes Schweigen. Der Admiral musterte James Read ernst, bevor er sagte: »Was für eine Geschichte! Und trotzdem vertrauen Sie diesem Hawkwood? Ich darf Sie daran erinnern, dass es hierbei nicht um die simple Aufklärung eines Verbrechens, sondern um die Sicherheit des gesamten Königreichs geht.«
»Captain Hawkwood besitzt mein höchstes Vertrauen«, entgegnete Richter Read bestimmt. »Er ist mein bester Polizist mit der höchsten Aufklärungsrate von Diebstählen. Außerdem hat er ausgezeichnete Kontakte zur Unterwelt. Wenn jemand diese Mörder zur Strecke bringen kann, dann er.«
Trotz der Skepsis, die der Seelord auch in den Augen von Blomefield und Dalryde wahrnahm, seufzte er und gab klein bei. »Na gut, Read. Wie es scheint, bleibt uns nichts anderes übrig, als Ihre Entscheidung zu akzeptieren. Mal sehen, ob sich Ihr Mann bewährt. Ich erwarte jedoch, dass dem Ministerium jeden Tag Bericht erstattet wird. Ist das klar?«
»Wie Sie wünschen!« Read deutete eine Verneigung an.
Worauf der Seelord mit dem Finger auf James Reads Brust deutete und drohend hinzufügte: »Hoffentlich behalten Sie Recht, Sir. Denn Gott möge Ihnen helfen, sollte Ihr Mann versagen – oder vielmehr: Gott steh uns allen bei.«
Das Mädchen war schmutzig und konnte nicht älter als zwölf oder dreizehn sein, aber ihre Augen waren die einer alten Frau. Mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck hatte sie zu ihm hochgesehen, sich aufreizend über die Lippen geleckt und dann einfach gesagt: »Jago schickt mich.«
Dann ging das verwahrloste Kind in dem zerschlissenen Kleid neben Hawkwood her. Ihm entging nicht, wie die Leute beim Anblick dieses seltsamen Paars reagierten: die spöttischen Blicke, die anzüglich grinsenden Gesichter, das sich gegenseitige Anstoßen und Zuzwinkern. Natürlich bemerkte auch das Mädchen, welche Aufmerksamkeit sie erregten, doch es schien ihr gleichgültig zu sein. Zweifellos war sie daran gewöhnt.
Die Great Earl Street entlang, vorbei an der Kreuzung Seven Dials, zur Kirche St. Giles führte sie ihn durch ein finsteres Gassengewirr, wohl aus Vorsicht, um eventuelle Verfolger abzuschütteln.
An einer Straßenecke, im Schatten des Kirchturms, hatte das Mädchen ihn am Ärmel gepackt und mit dünner Stimme gewarnt: »Bleib dicht bei mir.«
Einen ganzen Tag hatte Hawkwood darauf gewartet, dass Jago auf seine Nachricht reagierte, und diese Zeit genutzt, um mit dem Offizier der berittenen Patrouille, die die Wegelagerer in die Flucht geschlagen hatte, Kontakt aufzunehmen.
Weil Hawkwood den Exmajor der Dragoner Lomax bisher noch nicht persönlich kannte, war er schockiert, als er den Mann traf. Die rechte Seite seines Gesichts bestand von der Braue bis zum Hals nur aus Narbengewebe, die leere Augenhöhle war ein Krater aus zerfetztem Fleisch und der Kiefer sah aus, als hätte jemand ein Brandeisen darauf gedrückt.
Nachdem sich Hawkwood wieder gefasst und sich gezwungen hatte, den Blick nicht abzuwenden, hörte er sich Lomax’ Schilderung der Ereignisse in jener Nacht an.
Es sei nur einem Zufall und der unwetterbedingten Verspätung der Postkutsche zu verdanken, dass seine Patrouille während ihrer Streife durch das Heideland den Überfall bemerkt und eingegriffen habe, erklärte der Major. Er habe zwei seiner Männer bei der Kutsche postiert und mit dem Rest seines Trupps die Räuber verfolgt, ihre Spur jedoch wegen des heftigen Regens nach circa einer Meile in der Gegend von Bermondsey im Norden der Hauptstadt verloren. Das bedeutete, dass die Räuber jeden der etwa ein Dutzend Wege hatten einschlagen können.
Hawkwood unterdrückte seine Enttäuschung über die wenig aufschlussreichen Hinweise – obwohl er nicht viel mehr hatte erwarten können – und bedankte sich bei Lomax.
Da sprach der Exmajor ihn, nach Worten ringend, noch einmal an. »Da gibt es etwas, das Sie wissen sollen. Ich war in Talavera, beim 23. Regiment der Leichten Brigade unter Anson. Ich … das heißt … wir …« Lomax holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Ich meine … dieser Delancey war ein schlechter Offizier. Niemand hat ihn gemocht, und dieser idiotische Angriff hat vielen tapferen Männern das Leben gekostet. Nur Sie haben ihm gesagt, was gesagt werden musste, und getan, was getan werden musste. Viele Kameraden waren der Meinung, dass Sie Besseres verdient hätten.« Lomax zuckte verlegen mit den Schultern. »Wie auch immer, jedenfalls wollte ich, dass Sie das wissen.«
Dann schwieg Lomax und senkte den Blick. Offensichtlich waren ihm seine Worte peinlich.