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In dieser Schlacht wurde er also derart entstellt, dachte Hawkwood.

Viele Soldaten waren damals im Kampf gefallen, doch an jenem Tag hatte noch ein anderer, erbarmungsloser Feind fast alles vernichtet, was sich ihm in den Weg gestellt hatte.

Das Feuer.

Vielleicht hatte der Zündfunke einer Muskete oder Kanone das verdorrte Gras in Brand gesetzt. Vom Sommerwind angefacht, hatte sich das Feuer mit unheimlicher Geschwindigkeit und Heftigkeit ausgebreitet und war über verwundete und tote Soldaten hinweggefegt. Noch Monate später hatte Hawkwood die Schreie der brennenden Männer gehört und den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase gehabt.

Lomax musste einer dieser Männer gewesen sein, die auf dem Schlachtfeld eingeschlossen waren. Wie durch ein Wunder, aber um welch entsetzlichen Preis hatte er überlebt.

»Ich war verwundet und lag unter meinem Pferd«, sagte Lomax, als würde er Hawkwoods Gedanken lesen. »Und es war ein verdammter Franzose, der mich rausgezogen hat, sonst wären ich und mein Pferd verbrannt.« Kopfschüttelnd wiederholte Lomax: »Ausgerechnet einem verdammten Franzosen verdanke ich mein Leben. Wer hätte das gedacht?«

Dann hob Lomax den Arm. Seine rechte Hand sah wie eine schwarz verfärbte Klaue aus. »Damit konnte ich natürlich nicht weiterkämpfen. Reiten kann ich zwar noch, aber ein Kavallerist muss auch gleichzeitig eine Waffe ziehen können.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und fügte hinzu: »Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich gerade noch in der Nase bohren.«

Hawkwood bewunderte Lomax’ Offenheit, denn er wusste, wie schwer es dem Exmajor fiel, über diese für die Leichten Dragoner so verheerende Schlacht zu sprechen. Fehlentscheidungen und unglückselige Umstände hatten dazu geführt, dass über die Hälfte des Regiments gefallen war.

Doch trotz Lomax’ wohlgemeinter Worte konnte die Vergangenheit nicht neu geschrieben werden. Hawkwood hatte seine militärische Laufbahn beendet und musste jetzt zum Rhythmus einer anderen Trommel marschieren. Und dieser Trommelwirbel schickte ihn nun auf einen Weg, den er nicht gern einschlug. Er hätte sich wie ein Pilger fühlen können, wäre der Name für diesen Ort, den er aufsuchen musste, nicht der reinste Hohn: Denn dieser Sündenpfuhl, in dem es von Gesetzlosen aller Art nur so wimmelte, hieß Holy Land – Heiliges Land.

Das Elendsviertel von St. Giles war eine Welt für sich. Von der Great Russell Street im Norden, der Oxford Street im Westen und der Broad Street im Süden begrenzt, umfasste das Viertel etwa vier Hektar und glich einem eitrigen Geschwür im Herzen der Stadt. In dem beinahe undurchdringlichen Gewirr schmaler Straßen mit verfallenen Gebäuden, Hinterhöfen und Abwässerkanälen herrschten Armut, Laster und Kriminalität. Hunderte Schleichwege durch Spelunken und Gassen um den Leicester Square, vom Haymarket und durch die nasskalten Tunnel der Regent Street führten in diese Rattenlöcher. Unter dem Holzplatz im Osten gab es angeblich einen bis nach High Holborn reichenden Gang.

Die ersten Bewohner des Viertels – größtenteils katholische Iren und Verfemte – hatten ihrem Zufluchtsort den Namen gegeben. Mörder, Deserteure, Diebe, Bettler und Huren hatten zusammen mit den Armen und Hungernden dort Unterschlupf und Schutz vor Vertretern der Obrigkeit und vor Gendarmen gefunden. Losgelöst von den Zwängen der konventionellen Gesellschaft hatten die Bewohner des Holy Land ein Königreich mit eigenen Gesetzen, Gerichten und Selbstjustiz errichtet. Deshalb handelte jeder behördliche Vertreter, der sich in das Elendsviertel St. Giles wagte, auf eigene Gefahr.

Jagos Botin hieß Jenny und war nur eines von tausenden elternlosen Straßenkindern, die sich mehr oder weniger anständig durchs Leben schlugen oder wie Jenny ihre Körper, ihren einzigen Besitz, verkauften.

Hawkwood spürte die misstrauischen Blicke der halb hinter maroden, schiefen Türen verborgenen Beobachter geradezu körperlich. Er sah, wie teilnahmslose graue Gesichter aus mit Lumpen verhängten Fenstern spähten, während er und das Mädchen durch den Dreck neben der überquellenden Kloakenrinne stapften. Menschliche und tierische Exkremente, verrottender Abfall und Fäulnis boten ein Bild völliger Verwahrlosung.

Aus einer der trostlosen Gassen drang der schrille Angstschrei einer Frau, ein Mann fluchte obszön, dann ein dumpfer Schlag, und der Schrei verkam zu einem kläglichen Wimmern. Jenny klammerte sich an Hawkwoods Ärmel, denn trotz ihrer zur Schau gestellten Dreistigkeit war sie noch ein Kind, das sich fürchtete.

In einer offenen Tür lehnte eine Gestalt – eine Frau, wie Hawkwood erst bei näherem Hinsehen erkannte. Sofort riss sie sich ihr Umhängetuch von den Schultern, hob ihren zerlumpten Rock und entblößte ihre Scham. Brüste und Beine waren fahl wie der Bauch eines Fisches und voller Schwielen. Sie warf den Kopf in den Nacken, lachte laut und rief: »Komm her, Süßer! Lass die Kleine sausen. Molly zeigt dir, was eine richtige Frau draufhat!«

Jenny presste sich dichter an Hawkwood, als ihnen das raue Gelächter der Hure durch die Gasse folgte.

Mittlerweile waren sie tief in das Elendsviertel vorgedrungen. Hawkwood hatte völlig die Orientierung verloren, denn das Mädchen hatte ihn absichtlich in die Irre geführt. Er bezweifelte, ob er ohne ortskundige Führung je wieder in die Zivilisation zurückfinden würde.

Die Gassen zwischen den eng aneinander stehenden Häusern wurden noch schmaler, und es wurde immer dunkler. Hawkwood fiel auf, dass sich kaum noch menschliche Wesen blicken ließen, so als wären sie von den Schatten verschluckt worden. Ob sie die Gassen meiden, weil ich hier aufgetaucht bin?, wunderte er sich.

Plötzlich zerrte Jenny ihn durch einen niedrigen Torbogen und ein paar steinerne Stufen nach unten. Dort blieb sie vor einer massiven Holztür stehen. Dahinter hörte er Stimmen und andere Geräusche, kehlig und undeutlich, das Ganze vom Quietschen einer Fiedel übertönt. Als Jenny an die Tür klopfte, spürte Hawkwood ein Prickeln im Nacken. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Hawkwood stolperte hinter dem Mädchen blindlings ins Dunkle.

5

Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich Hawkwoods Augen an das trübe Licht in dem großen, verräucherten Kellergewölbe gewöhnt hatten. Am hinteren Ende führte eine Holztreppe zu einer Ebene, die durch ein Geländer vom Schankraum getrennt war. An einer Wand erstreckte sich die aus leeren Fässern und blanken Brettern konstruierte Theke.

An groben Tischen saßen Männer und Frauen, andere standen, Flaschen oder Krüge in den Händen, am Tresen. Die Gäste waren ausnahmslos ärmlich gekleidet, ihre Gesichter vom Hunger ausgezehrt oder vom Alkohol verwüstet. In der Ecke hockte ein Fiedler, und ein paar Männer grölten betrunken unflätige Lieder.

Zwanzig Gäste oder mehr standen um den Hunde-Pit. Etwa ein halbes Dutzend stämmige Bullterrier, Muskelpakete, an die zwanzig Kilo schwer, mit vernarbten Körpern und kupierten Ohren, um dem Angreifer weniger Bissfläche zu bieten, zerrten an ihren Ketten. An Köderhunden mit teilweise geschorenem Fell lernten die Kampfhunde sich in besonders verwundbaren Körperteilen zu verbeißen. Neben dem Pit standen Fässer mit Mehl, das über kämpfende Hunde geschüttet wurde, um sie zu trennen. Das Mehl verstopfte ihre Nasen und zwang die Tiere, ihren Biss zu lockern, damit die Besitzer sie auseinander zerren konnten.

In dem Gewölbe stank es nach Fusel, Rauch, Tabak, Sägemehl, ungewaschenen Körpern, Erbrochenem und Urin.

Bei Hawkwoods Eintritt verstummten die Gespräche so abrupt, als würden alle Anwesenden gleichzeitig die Luft anhalten. In dem bedrohlich wirkenden Schweigen überlief es Hawkwood eiskalt.

Zwei Männer mit Holzknüppeln in der Hand postierten sich hinter Hawkwood und blockierten die Tür. Jenny ließ seinen Ärmel los. Mehrere Hunde spürten die durch Anwesenheit eines Fremden angespannte Atmosphäre, fletschten die Zähne und knurrten böse.

»Na, so was, wen haben wir denn hier? Der feine Herr hat sich wohl in der Tür geirrt, wie?«