»Du bist ein verdammter Idiot, Nathaniel«, hatte Hawkwood gesagt. »Ist es das Risiko wert, hier in den Bergen zu sterben?«
»Ja, wenn wir ein paar Franzosen mitnehmen«, hatte Jago entgegnet und grinsend hinzugefügt: »Die Armee kommt gut ohne Jago aus. Sie hingegen … na, geben Sie’s doch zu, Cap’n. Sie würden mich vermissen.«
Diesen im Scherz dahingesagten Worten hatte Hawkwood nichts entgegenzusetzen gehabt, denn er wusste, dass ihm der Sergeant ebenso unersetzlich war wie sein Gewehr oder sein Degen. Er brauchte Jagos Unterstützung in seinem persönlichen Krieg gegen die Franzosen. Also hatte sich Hawkwood geschlagen gegeben. Seitdem hatten die beiden nie wieder über dieses Thema geredet.
Bis zu jenem Tag, an dem sich Hawkwood zur Rückkehr nach England entschlossen hatte.
Ende September – der erste Schnee war in den Bergen schon gefallen – hatte Hawkwood Jago seinen Entschluss am Lagerfeuer mitgeteilt und war erstaunt gewesen, als der Sergeant gleichmütig reagiert und nur eine Frage gestellt hatte: »Wann geht’s los?«
Es war ihnen gelungen, zwei Passagen auf einem Handelsschiff nach London zu ergattern. Vor der Küste von Kent war Jago an der Mündung des Medway im Morgengrauen von Bord gesprungen, weil Militärpolizisten regelmäßig ankommende Schiffe nach Deserteuren durchsuchten. Hawkwood hatte Jago ans Ufer schwimmen sehen und den Verlust seines treuen Freundes sehr bedauert.
Hawkwood hatte angenommen, dass der Sergeant in das ihm vertraute Gebiet der Sümpfe von Kent zurückkehren und dort wieder wie früher als Schmuggler ein neues Leben beginnen würde. Er hatte keine Angst, dass Jago je gefasst werden würde, dafür war der Sergeant zu gerissen. Er wusste aber auch, dass Jago mit ihm in Verbindung treten würde, sollte er es für nötig halten.
Und so war es auch gekommen. Hawkwood hatte nichts mehr von Jago gehört, bis er während seiner ersten Monate als Runner das Gerücht aufgeschnappt hatte, Sergeant Jago habe sich doch nicht in den Salzsümpfen niedergelassen, sondern sei den Verlockungen der Großstadt gefolgt.
Londons Unterwelt war eine verschworene Gemeinschaft, sodass Hawkwood nur hin und wieder Gerüchte aufschnappte: Ein Exsoldat im tiefsten Elendsviertel Anführer einer Bande Schläger, die er mit militärischer Präzision befehlige.
Es erstaunte Hawkwood keineswegs, dass Jago durch seine militärischen Fähigkeiten und Erfahrungen jetzt zum Bandenführer aufgestiegen war und sich in Londons Unterwelt einen Namen gemacht hatte. Es hieß, der Sergeant habe seine Finger in jedem lukrativen Geschäft. Dazu gehörten angeblich Schutzgelderpressung, Diebstahl, Seeräuberei und Prostitution. Wie viel davon stimmte, hatte Hawkwood nie feststellen können, doch in jedem Gerücht steckt schließlich ein Körnchen Wahrheit. Jedenfalls war es Jago gelungen, sich seit seiner Ankunft im Elendsviertel eine einflussreiche Position aufzubauen. Ob er diesen Erfolg seinem Grips oder seiner Muskelkraft zu verdanken hatte, blieb dahingestellt, doch so, wie Hawkwood den Sergeant kannte, hatte er beides eingesetzt. Wie auch immer, jedenfalls war der Exsoldat jetzt in der Lage, Hawkwood manchmal genau die Informationen zuzuspielen, die er brauchte.
Über Monate hinweg hatten sich die beiden immer wieder gelegentlich getroffen, aber nur auf Jagos eigenem Terrain. Das sei nicht persönlich gemeint, hatte Jago gesagt, aber man wisse ja nie, ob so ein verdammter Militärpolizist plötzlich aus dem Nichts auftauche. »Sie wollen doch nicht, dass ich mit runtergelassenen Hosen geschnappt werde, oder, Sir?«, hatte er hinzugefügt.
Und so hatte sich allmählich eine Partnerschaft entwickelt, die aus dem Austausch von Tipps über kriminelle Machenschaften und Hinweisen über bevorstehende behördliche Maßnahmen bestand. Und beide Parteien hatten bisher davon profitiert.
Jetzt stellte Jago sein Glas auf den Tisch, beugte sich vor und sagte: »Cap’n, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Natürlich freue ich mich, Sie zu sehen, doch meine alten Knochen sagen mir, dass es sich nicht um einen rein freundschaftlichen Besuch Ihrerseits handelt. Dahinter steckt doch eine Absicht, oder? Möchten Sie dem alten Nathaniel sagen, worum es sich handelt?«
Plötzlich flackerte die Kerze in einem Luftzug, sodass Jagos Schatten an der Wand hin und her wanderte, einen formlosen Klecks bildete oder wie ein aus der Ecke springender buckeliger Kobold aussah.
In der Schänke herrschte jetzt große Aufregung, denn in dem mit Stroh bestreuten Pit wurden zwei Kampfhunde aufeinander gehetzt. Knurrend und zähnefletschend sprangen sie einander an die Gurgel und fetzten sich mit ihren scharfen Krallen das Fell vom Körper. Hawkwood wandte schnell den Kopf wieder ab und sagte: »Es geht um Informationen.«
»Kaufen oder verkaufen Sie?«, fragte Jago und hob spöttisch die Brauen.
Hawkwood verschwendete keine Zeit und kam sofort zur Sache. »Vor zwei Nächten wurde an der Straße nach Kent eine Kutsche überfallen. Dabei wurden zwei Männer getötet: der Wachmann und ein Passagier.«
»Und Sie denken, ich hätte etwas damit zu tun?«, erkundigte sich Jago stirnrunzelnd.
Hawkwood musterte seinen ehemaligen Sergeant eindringlich, ehe er antwortete: »Nein, aber ich nehme an, dieser Überfall hat eine gewisse Aufmerksamkeit erregt. Habe ich Recht?«
Jago neigte den Kopf zur Seite. »Könnte sein, dass ich was gehört habe.«
»Und was?«
Jago sah Hawkwood unverwandt an. »Wollen Sie die beiden vor den Richter bringen, Cap’n?«
»Die beiden?«, hakte Hawkwood schnell nach.
Jago trank einen Schluck Cognac und wischte sich dann den Mund ab. Hawkwood wusste, dass der Sergeant Zeit gewinnen und seine Chancen abwägen wollte.
»Es waren zwei Männer«, verriet er schließlich. »Ein alter und ein junger, wie ich gehört habe.«
»Was hast du sonst noch gehört?«
»Nicht viel«, entgegnete Jago und seufzte. »Außer, dass sie vor den Rotröcken fliehen mussten und nur ein paar wertlose Schmuckstücke erbeutet haben.« Kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Der ganze Aufwand hat sich doch nicht gelohnt. Verdammte Amateure!«
»Der Passagier war ein Kurier der Admiralität«, sagte Hawkwood.
»Ach, tatsächlich?«, entgegnete Jago mit schmalen Augen.
»Ich habe mich schon gefragt, warum Sie derart an diesem Überfall interessiert sind. Mal ehrlich, wenn nur der Begleiter des Kutschers getötet worden wäre, säßen wir dann auch hier und würden uns darüber unterhalten?«
»Mord ist Mord«, dozierte Hawkwood. »Es spielt keine Rolle, ob das Opfer ein Prinz oder Bettler war. Mord ist etwas anderes als der Diebstahl eines Brotlaibs.«
»Erklären Sie das mal dem Richter«, knurrte Jago. »Unsereins wird doch für beides gehängt.«
Hawkwood schüttelte den Kopf. »Ich würde nie einen Mann festnehmen, der einen Laib Brot für seine Familie stiehlt.«
»Wenn das so ist«, murmelte Jago, »dann sind Sie aber in der Minderheit.« Er musterte Hawkwood durchdringend. »Wissen Sie, Cap’n, mir fällt auf, dass dies zu einer verdammten Gewohnheit wird.«
»Was?«
»Dass Sie zu mir kommen und mich um einen Gefallen bitten, weil wir früher Waffengefährten waren. So geht das nicht.«
»Hast du nicht gesagt, es sei dir stets eine Freude, mich zu empfangen?«, entgegnete Hawkwood lächelnd.
»O Mann!«, konterte Jago schlagfertig. »Eins muss man Ihnen lassen: Ihren Humor haben Sie nicht verloren.«
»Ich leugne ja nicht, dass es mir leichter fällt, dich um einen Gefallen zu bitten, weil wir uns schon so lange kennen. Man nimmt, was man kriegt.«
»Und im Augenblick haben Sie nur mich«, folgerte Jago.
Hawkwood lächelte wieder und erzählte dann, dass Lomax und seine Patrouille die Spur der flüchtenden Straßenräuber verloren hatten.
»Diese blöden Kavalleristen«, erwiderte Jago. »Was haben Sie denn erwartet? Die finden nicht einmal ihre eigenen Ärsche, auf denen sie sitzen.«