Hätte Jago Lomax’ bis zur Unkenntlichkeit verstümmeltes Gesicht gesehen, dachte Hawkwood, wäre ihm diese üble Bemerkung wohl im Hals stecken geblieben.
»Ich bin kein Denunziant, Cap’n.«
»Das weiß ich«, wisperte Hawkwood.
»Es bleibt also bei unserer gewohnten Vereinbarung: Eine Hand wäscht die andere?«, seufzte Jago theatralisch und lenkte ein: »Na gut, abgemacht. Was soll ich tun?«
»Halt einfach Augen und Ohren offen, und lass mich wissen, ob jemand versucht, die Beute zu verhökern.«
»Mehr nicht?«, hakte Jago argwöhnisch nach.
»Mehr nicht«, bestätigte Hawkwood.
»Ihnen ist schon klar, dass ich durch den Umgang mit Ihnen meinen Ruf riskiere?«
»Du wirst es überleben«, sagte Hawkwood.
Aus dem Pit drang ein markerschütterndes Heulen, gefolgt vom Aufstöhnen der Zuschauer.
»Blutrünstige Arschlöcher«, schnaubte Jago verächtlich und beobachtete, wie der besiegte, aus mehreren Wunden blutende Kampfhund laut keuchend von seinem enttäuschten Besitzer aus dem Pit gezerrt wurde.
Dann merkte Hawkwood, dass Jago den Blick zu einem der Nebentische schweifen ließ. Einer der dort sitzenden Männer, ein stämmiger Kerl mit rasiertem Schädel und einem Gesicht voller Pockennarben, erregte seine Aufmerksamkeit. Der Mann starrte Jago mit unverhohlener Feindseligkeit an. Zu seinen Füßen lag ein riesiger, scheckiger, bösartig dreinblickender Hund. Die breite Schnauze auf den Pfoten, schien er zu dösen, hob jedoch plötzlich seinen mächtigen Schädel und bleckte die rasiermesserscharfen Zähne.
»Hast du mir was zu sagen, Tom Scully?«, forderte ihn Jago heraus. »Wenn ja, dann spuck’s aus. Bringen wir’s hinter uns.«
Der mächtige Kerl warf sich in die Brust, ignorierte die ängstlichen Blicke seiner Kumpane und platzte heraus: »Du befindest dich in schlechter Gesellschaft, Jago.«
»Tatsächlich?«, entgegnete Jago. »Was ihr denkt, kümmert mich einen Scheißdreck.«
Finster deutete Tom Scully mit dem Kinn auf Hawkwood. »Wir alle haben gehört, dass Dick Brewer den Kerl erkannt hat. Er ist das Gesetz. Er ist ein verdammter Runner, ein Rattenfänger! Wir wundern uns, wie es kommt, dass du mit ihm eine Flasche leerst. So, wie ich das sehe, geht ihr etwas zu vertraut miteinander um.«
»Mit wem ich trinke, geht nur mich etwas an«, knurrte Jago. »Merkt euch das.«
»Nicht, wenn er uns die Gendarmen auf den Hals hetzt.«
»Das wird nicht passieren.«
»Wer sagt das?«
»Ich.«
»Du?«
»Ja, Scully. Ich. Zweifelst du etwa an meinen Worten?«
Da merkte Scully, dass er zu weit gegangen war und von seinen Kumpeln im Stich gelassen wurde. Er leckte sich nervös die blutleeren Lippen. Dann lenkte er ein: »Ich will damit nur andeuten, dass es nicht richtig ist.«
»Du findest es nicht richtig?«, empörte sich Jago und verdrehte die Augen. »Herrgott, Scully! Vieles ist nicht richtig. Es ist nicht richtig, dass Menschen auf den Straßen sterben. Und es kotzt mich an, dass du hier rumjammerst wie ein verdammtes Fischweib. Wenn dir nichts Besseres einfällt, solltest du lieber die Klappe halten, sonst setzen wir unsere Unterhaltung in diesem beschissenen Hunde-Pit fort. Hast du mich verstanden?«
Angespanntes Schweigen.
»Ich warte«, sagte Jago schließlich.
Obwohl Scullys Unterkiefer zuckte und seine Augen böse funkelten, murmelte er: »Ich habe verstanden.«
»Gut«, erwiderte Jago und starrte Scullys Kumpel herausfordernd an. »Hat sonst noch jemand etwas auf dem Herzen? Nein? Na, da bin ich aber froh.«
Er drehte sich zu Hawkwood um und murmelte finster: »Blöde Arschlöcher«, und hob sein Glas. »Wo waren wir stehen geblieben?«
»Wer ist das?«, erkundigte sich Hawkwood.
»Scully?« Jago spuckte den Namen förmlich aus und stellte den Krug wieder auf den Tisch. »Nichts als eine miese Kielquappe. Achten Sie nicht auf ihn.«
»Ein Seemann?«
»Ja. Und ausgerechnet er redet von schlechter Gesellschaft. Darüber könnte Scully ein Buch schreiben. Wenn der Bastard überhaupt schreiben kann«, fügte Jago mit grimmigem Humor hinzu.
»Was weißt du über ihn?«
Jago starrte kurz in seinen Becher, blickte dann auf und zuckte abweisend mit den Schultern. »Er war bei der Marine. Behauptet, als Captain der Kanoniere auf der Inflexible gedient zu haben.« Jago verzog verächtlich die Lippen. »Er war einer von Parkers Schlägern.«
»Parker?«
»Ja, genau der. Delegates of the Whole Fleet at the Nore schimpften sich diese Großmäuler. Ich würde sie anders nennen.«
Da begriff Hawkwood, wovon Jago sprach. »Du meinst die Meuterer?«
Jago nickte. »Es heißt, er sei einer der Rädelsführer gewesen.«
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass Jago, der Deserteur, einen Meuterer in ein derart schlechtes Licht rückte. Hawkwood wusste jedoch, dass für Jago zwischen beiden ein himmelweiter Unterschied bestand.
»Und wie ist es ihm gelungen, durch das Netz zu schlüpfen?«, fragte Hawkwood.
»Na, die Geschichte wird Ihnen gefallen«, sagte Jago. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass er Kanonier auf der Inflexible war.«
Hawkwood nickte.
»Es war die Mannschaft der Inflexible, die sich als Letzte ergeben wollte – bis auf etwa ein Dutzend Männer, einschließlich Scully, die weiterkämpfen wollten. Die anderen hatten jedoch die Nase voll und haben Scully und seine Kumpane unter Deck eingesperrt. Und während die Besatzung auf die Kapitulation gewartet hat, ist es Scully und seinen Männern gelungen, durch ein Kanonenloch zu klettern und mit Beibooten zu fliehen.«
Jago schilderte, dass die Flüchtigen es bis nach Faversham geschafft, dort eine Schaluppe gestohlen hatten und nach Calais gesegelt waren, um zu den Franzosen überzulaufen.
»Die dachten, sie würden mit offenen Armen in Empfang genommen«, fuhr Jago fort und lehnte sich zurück. »Blöde Scheißkerle! Gleich nach der Landung haben die Franzosen sie ins Gefängnis gesteckt. Wahrscheinlich sollten sie gegen unsere Kriegsgefangenen eingetauscht werden.«
»Ist es so gekommen?«
»Nee. Irgendwann wurden sie freigelassen. Die meisten haben dann auf französischen Kaperschiffen angeheuert.«
»Scully auch?«
»Behauptet er jedenfalls. Angeblich war er acht Jahre Freibeuter, ehe er vor Martinique von Bord gesprungen und sich auf den Heimweg gemacht hat. Dann ist er ins Schmugglergeschäft eingestiegen. Er stammt aus meiner Gegend, aus Sheerness, und kennt die Küste, alle Landeplätze und Verstecke vor dem Zoll wie seine Westentasche. Eins muss ich ihm aber lassen«, fügte Jago hinzu. »Es gibt wohl nicht viele Kerle, denen durch einen Sprung ins Wasser zweimal die Flucht gelungen ist.«
»Jetzt ist er aber weit weg von zu Hause«, sagte Hawkwood.
»Sind wir das nicht alle?«, murmelte Jago und ließ seinen Blick durch den Keller schweifen. Ihm entging nichts. »Tatsächlich ist Scully – wir nennen ihn auch Ahle – einer der besten leichten Reiter auf dem Fluss.«
Es gab zwei Arten von Reitern. Schwere Reiter begingen ihre Beutezüge im hellen Tageslicht, während die leichten Reiter den Schutz der Dunkelheit vorzogen. Die Jagdgründe dieser Banden waren am Fluss ankernde Schiffe. Sie nutzten Ebbe und Flut und das Mondlicht, spähten geeignete Frachtkähne und Leichter aus, kappten die Taue und ließen die Schiffe stromabwärts treiben und an einem geeigneten Landeplatz stranden. Dort entluden sie die Fracht und übergaben sie Hehlern zur Verteilung und zum Verkauf. Für Männer mit starken Nerven und den richtigen Verbindungen war das ein gutes Geschäft.
»Warum hat er den Spitznamen ›Ahle‹?«, fragte Hawkwood.