»Zwei … drei … vier …«
John Rutherford schritt auf dem weichen, feuchten Gras nach Norden, Hawkwood nach Süden. So hatte keiner der beiden Männer den Vorteil, die Sonne im Rücken zu haben.
»Fünf … sechs … sieben …«
Hawkwood umfasste den Pistolengriff fester und spürte, wie ihm Schweißtropfen in den Nacken rannen.
»Elf …« Dann eine Pause, die eine Ewigkeit zu dauern schien.
»Zwölf … Gentlemen, Sie dürfen sich umdrehen und schießen.«
Hawkwood wirbelte um die eigene Achse und sah einen grellen Blitz, als sich das Pulver in Rutherfords Pistole entzündete. Erstaunlich laut hallte der Schuss in der frischen Morgenluft über die Lichtung.
Hawkwood spürte einen heftigen Schmerz links im Brustkorb, als sich die Kugel wie ein brandheißer Schürhaken durch das Fleisch bohrte.
Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, bemerkte Rutherford, starr vor Schreck, dass sein Gegner aufrecht dastand und seine Pistole noch nicht abgefeuert hatte. Eine Sekunde verging. Zwei, drei. Hawkwood sah, dass Rutherford aschfahl wurde. Ganz langsam hob er seinen rechten Arm und zuckte zusammen, als sein Hemd die Wunde berührte. Dann zielte er sorgfältig und schoss.
John Rutherford drehte sich ganz langsam um die eigene Achse, die Pistole fiel ihm aus der Hand, und er sank zu Boden. Jetzt totenblass umklammerte er mit der linken Hand die Wunde in seinem rechten Arm und starrte Hawkwood an, als könnte er nicht begreifen, dass er getroffen wurde. Hawkwood stand mit gespreizten Beinen da und blickte kurz zu seinem geschlagenen Gegner hinüber, ehe er langsam die Pistole sinken ließ. Geistesabwesend drückte er die Hand auf seinen Bauch und sah dann, dass sie blutverschmiert war.
Major Lawrence gewann als Erster die Fassung wieder und lief zu Hawkwood. Erschrocken rief er: »Großer Gott! Sie sind ja verletzt! Lassen Sie mich sehen!« Beim Anblick der Wunde schnappte er nach Luft und sah sich dann um. »Verdammt! Wo, zum Teufel, bleibt dieser Bauchaufschneider?«
Als Lawrence Hawkwoods Rippen betastete, stöhnte der Runner. »Ist schon gut, Major«, sagte er. »Es ist nur eine Fleischwunde. Ich werd’s überleben. Der Junge braucht den Arzt dringender als ich.«
Dann ging er langsam, den noch immer aufgeregten und besorgten Major an seiner Seite, zu Rutherford. Giles Campbell, sein Sekundant, stützte den Verwundeten, während der Arzt den Hemdsärmel wegriss und mit zitternden Händen die Wunde untersuchte. Mit zusammengebissenen Zähnen krümmte sich Rutherford bei dieser Berührung. Hawkwood konnte nicht sehen, ob die Kugel den Arm durchbohrt und dabei den Knochen zersplittert hatte. Er warf die Pistole ins Gras und sagte: »Damit ist unsere Angelegenheit wohl erledigt.«
John Rutherford blinzelte unter Tränen und sah zu ihm hoch. »Sie hätten mich töten können«, flüsterte er heiser. »Warum haben Sie’s nicht getan?«
Hawkwood zuckte mit den Schultern. »Dafür gibt es mehrere Gründe, suchen Sie sich einen aus: Es ist ein wunderschöner Morgen. Ich habe wichtigere Dinge zu tun. Ich muss ein Verbrechen aufklären, Orte besichtigen und Personen befragen. Aber lass dir eins gesagt sein, mein Junge: Solltest du je wieder in Versuchung kommen, einen Mann zum Duell herauszufordern, dann musst du dir verdammt sicher sein, als Sieger daraus hervorzugehen.«
Hawkwood ließ sich von Major Lawrence in seinen Rock helfen. »Hier sind wir fertig, Major«, sagte er. »Es wird höchste Zeit, dass wir verschwinden. Ich habe keine Lust, einer Patrouille meine Anwesenheit hier erklären zu müssen. Mir reicht der Ärger, den ich am Hals habe.« Er nickte James Neville und Giles Campbell, die ihn mit einem beinahe ehrfürchtigen Ausdruck in den Augen anstarrten, kurz zu. »Guten Tag, Gentlemen.«
»Wissen Sie, Hawkwood«, sagte der Major, als die beiden sich entfernten, »hätten Sie zuerst geschossen und danebengetroffen, wäre der Junge nicht so gnädig mit Ihnen gewesen.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, räumte Hawkwood ein. »Aber ich hätte nicht danebengetroffen.«
Der Major erkannte an Hawkwoods ernster Miene, dass diese Bemerkung weder spöttisch noch überheblich gemeint war. Er hatte einfach eine Tatsache konstatiert.
»Mein Gott!«, empörte sich Lawrence. »Sie wollten, dass der Junge zuerst schießt! Und Sie haben gehofft, dass er danebentrifft. Wie konnten Sie nur dieses Risiko eingehen?«
»Weil ich mir dachte, dass dieser Junge noch nie im Leben mit einer geladenen Pistole auf jemanden gezielt hat. Ich habe damit gerechnet, dass ihn seine Nerven im Stich lassen.«
»Oh, verdammt«, sagte Lawrence. »Und deswegen haben Sie ihn verschont?«
Die beiden traten jetzt unter den Bäumen hervor. Vor ihnen lag eine breite grüne Wiese.
»Für alles gibt es eine Zeit und einen Ort, Major. Keines von beiden traf hier zu. Vielleicht habe ich ja dem Jungen eine Lektion fürs Leben erteilt.«
Voller Zweifel meinte Lawrence: »John Rutherford wird Ihnen diese Niederlage nie verzeihen.«
»Damit kann ich leben«, sagte Hawkwood. »Schlimmer wäre es, seinen Tod auf dem Gewissen zu haben.«
Lawrence blinzelte ungläubig. »Aber Sie waren doch Soldat und haben getötet. Denken Sie an Delancey. Den haben Sie in einem Duell erschossen.«
Abrupt blieb Hawkwood stehen. »Delancey war Offizier und hat auch Männer im Duell getötet. Ich konnte es mir nicht leisten, diesem Bastard einen Vorteil zu gewähren. Wie bereits erwähnt, halte ich Rutherford für einen törichten, arroganten Jungen, der sich in etwas hineingesteigert hat. Und falls Sie es vergessen haben sollten, Major: Ich bin Polizist. Meine Aufgabe ist es, Duelle zu verhindern, und nicht, welche auszutragen!«
Lawrence schwieg kurz und grinste dann. »Hat Sie schon mal jemand darüber informiert, mein Freund, dass Sie dazu neigen, sich hart an der Grenze des Gesetzes zu bewegen?«
Da sah der Major zum ersten Mal, wie sich auf Hawkwoods Gesicht ein Ausdruck echter Belustigung ausbreitete. Wie dieses Lächeln ihn verändert, dachte Lawrence. Sogar die Narbe unter seinem Auge ist kaum noch zu sehen.
»Ja, das kommt öfter vor«, sagte Hawkwood lachend.
Vor ihnen lag jetzt Hyde Park Corner. Von dort führte eine Straße zum Piccadilly und der Fußweg gegenüber zur Knightsbridge.
»Na, wenigstens können wir für eins dankbar sein«, überlegte Lawrence laut. »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Rutherford seine Niederlage ausposaunen wird, denn er hat sich mit einem Mann duelliert, der nicht einmal zum Adel gehört!« Ernst fügte er hinzu: »Und ich bezweifle, dass Neville und Campbell Klatschgeschichten verbreiten werden.«
Wahrscheinlich hat der Major Recht, dachte Hawkwood. Duelle werden als Privatsache betrachtet, und da weder ich noch Rutherford Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind, wird diese Angelegenheit kein Aufsehen erregen. Der Major hat bereits mit ein paar Goldmünzen und entsprechenden Drohungen dafür gesorgt, dass Lord Mandrakes Dienstbote den Mund halten wird. Und die einzige andere Zeugin, die junge Lady, dürfte kein Interesse daran haben, dass dieser unerfreuliche Zwischenfall bekannt wird.
Hätte ich jedoch John Rutherford erschossen, wäre der Vorfall nicht zu vertuschen gewesen. Der Major hat sich darüber aufgeregt, dass Rutherford in seiner Dickköpfigkeit auf der Austragung des Duells bestanden hat. Aber bin ich denn besser? Mich hat meine Dummheit in Kombination mit meinen rigorosen Vorurteilen dazu verleitet, dass ich mich auf diese sinnlose Konfrontation eingelassen habe. Und dass ich überlebt habe, verdanke ich dem Zufall und der mangelnden Treffsicherheit meines Gegners. Kurz gesagt, ich habe Glück gehabt.
Dann dachte Hawkwood an James Read. Der Oberste Richter war ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter. Bei aller Härte vergaß er nie, unter welch widrigen Umständen seine Beamten tätig waren, und gewährte ihnen ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit. Dafür erwartete er jedoch absolute Hingabe an ihren Beruf und Loyalität. Ihre Zusammenarbeit basierte auf gegenseitigem Vertrauen. Und als Hawkwood den Köder geschluckt und Rutherfords Herausforderung angenommen hatte, hatte er dieses Vertrauen missbraucht. Und alles aufs Spiel gesetzt: nicht nur seine Karriere, sondern auch seine Beziehung zu einem Mann, dem er sehr viel zu verdanken hatte und den er bewunderte. Hätte er Rutherford getötet, so wäre die schlimmste Strafe für Hawkwood gewesen, den Ausdruck von Enttäuschung auf James Reads Gesicht erkennen zu müssen.