Выбрать главу

Der Faustkampf am Nachmittag hatte mehrere hundert Zuschauer aus allen Bevölkerungsschichten angelockt: Handwerker, Holzarbeiter, Lehrlinge, Stallknechte und Matrosen.

Es gab auch andere, feiner gekleidete Männer: Gecken und Dandys, die sich anlässlich dieses Ereignisses heute nicht in einem ihrer Clubs in der Pali Mall oder St. James trafen, sondern es vorzogen, den Vergnügungen der unteren Schichten in einem der anrüchigen Viertel der Hauptstadt zu frönen. Wozu auch die billigen Huren gehörten, die nur zu bereit waren,gegen bare Münze in einer dunklen Ecke oder in einem rattenverseuchten Bordell eine schnelle Nummer zu schieben. Und natürlich fanden sie es besonders reizvoll, Wetten auf den Boxkampf abzuschließen.

Männer in Uniform gehörten ebenfalls zu den Zuschauern: ein paar Armeeoffiziere und lärmende Blaujacken, eine Gruppe Marinesoldaten auf Landgang.

Hausierer und Marktschreier drängten sich durch die Menge, während am Rande der Menschenmassen Mütter ihren Kindern die Brust gaben und rotznasige Gören zwischen den Beinen der Erwachsenen durch den Dreck krabbelten. Verkrüppelte Bettler, die sich als Kriegsversehrte ausgaben, baten um milde Gaben, und Betrunkene übergaben sich in den Rinnstein. In einer Ecke des Hofs stand ein Fanatiker, seinen starren Blick auf eine Holzkiste gerichtet, und predigte gegen die Sünden des Fleisches und der Spielleidenschaft.

Preisboxen war gesetzlich verboten. Aufpasser standen deswegen vor den Hofeingängen und in den schmalen Gassen Schmiere und warnten Kämpfer und Zuschauer, wenn sich Polizisten näherten. Dann wurde der Ring innerhalb weniger Minuten abgebaut und Kämpfer und Veranstalter tauchten in der Menge unter.

Im Gedränge trieben sich allerdings noch andere Gestalten herum, die weder an dem Boxkampf noch an dem Prediger interessiert waren. Diese, dem Wesen nach sehr verschiedene Kreaturen, wurden von der Aussicht auf reiche Diebesbeute angezogen – Straßendiebe.

Einer dieser Taschendiebe, ein neunjähriger, für sein Alter zu kleiner, spindeldürrer Junge, wurde von seinen Kumpanen Tooler genannt, weil er sich schneller, als man nach Luft schnappen konnte, durch die Menge schlängelte und einem Opfer Brieftasche und Uhr entwendete. Schon im Alter von vier Jahren hatte der Zögling des Arbeitshauses Refuge and Bridewell zu klauen angefangen, und mittlerweile galt er in diesem Gewerbe als alter Hase.

Tooler hatte sein Opfer bereits eine Weile beobachtet. Durch die dicht gedrängt stehenden Zuschauer konnte er sich unbemerkt anschleichen, blitzschnell zuschlagen und wieder verschwinden. Jem Whistler, Toolers getreuer und vierzehn Monate älterer Kumpel, wischte sich die Krümel einer gestohlenen Hammelpastete vom Mund und grinste durchtrieben. Dann pirschten sich die beiden barfüßigen Bengel durch die Menge an ihre ahnungslosen Opfer heran.

Zur Freude der Zuschauer rappelte sich Figg noch einmal auf und landete ein paar, wenn auch ungezielte Treffer auf Benbows schon von Schlägen gezeichnetem Oberkörper. Vom Gebrüll seiner Anhänger angespornt, holte er zu einem wilden Schwinger aus, der den Kampf wohl beendet hätte, wäre sein Gegner dem Schlag nicht ausgewichen und hätte er Figg nicht oberhalb des Herzens mit einem mächtigen Aufwärtshaken getroffen. Figg wurde auf dem falschen Fuß erwischt, er taumelte unter der Wucht des Schlags, und Schmerz verzerrte sein übel zugerichtetes Gesicht. Blut tropfte ihm aus der Nase, und sein rasierter Schädel glänzte vor Schweiß.

Toolers Opfer, ein rothaariger Soldat mit kräftiger Gesichtsfarbe in dem scharlachroten Rock und den weißen Kniehosen eines Majors stand mit seinem ebenfalls uniformierten Kameraden unter dem Gewölbe eines Stalls. Mit gesenktem Kopf, Jem dicht auf seinen Fersen, schlich sich Tooler an den Major heran.

Im Boxring hieb Figg dem Mann aus Cornwall jetzt mit der Faust in die Nieren, worauf die Zuschauer kurz den Atem anhielten und dann laut schreiend beide Kämpfer anfeuerten.

Diese Gelegenheit nutzte Tooler. Er berührte leicht die Schärpe des Majors, hakte mit einer einzigen geschickten Bewegung die Taschenuhr aus und gab sie unter seinem Arm hindurch in Jem Whistlers ausgestreckte Hand weiter. Dann trennten sich die beiden kleinen Diebe sofort. Innerhalb von Sekunden waren sie in der Menge verschwunden. Weder der Major noch sein Kamerad hatten etwas von dem Diebstahl bemerkt.

Im Ring droschen die beiden Kämpfer weiter aufeinander ein. Figg machte unter den Schlägen des Mannes aus Cornwall allmählich schlapp. Blut und Schleim troffen aus seiner aufgeplatzten Nase und bespritzten sogar die direkt an den Seilen stehenden, vor Begeisterung grölenden Zuschauer. Der Kampf wuchs sich zu einer erbarmungslosen Keilerei aus.

Ohne auf das Spektakel zu achten, schlängelten sich die beiden Jungen durch die Menge und tauchten am Rand des Hofes in einer schmalen Gasse unter. Die dort postierten Aufpasser waren viel zu sehr mit dem Geschehen im Boxring beschäftigt, als dass sie auf zwei kleine Halunken achten konnten.

In dem Gewirr der feuchten, dunklen Gassen hinter der Taverne hasteten Tooler und Jem Whistler an verfallenen Behausungen und heruntergekommenen Herbergen vorbei. In einer der Jauchegruben in der Mitte einer Gasse lag ein aufgeblähter Tierkadaver. Ratten flohen piepend in den Schutz bröckelnder Hauswände. Finstere, schattenhafte Gestalten standen in dunklen Eingängen oder waren schemenhaft im flackernden Kerzenschein hinter Fensterscheiben zu sehen. Während die Nachmittagssonne hinter den verschachtelten Dächern versank, drangen die beiden Jungen immer tiefer in dieses Labyrinth ein.

Mutter Gants Herberge stand an der Seite eines kleinen Hofs am Ende eines hüftbreiten Durchgangs. Wie bei vielen dieser verkommenen Absteigen in dem Elendsviertel war über dem schmalen Eingang ein überhängendes Dach angebracht. Die Fenster starrten vor Dreck. In dem Bretterverschlag in einer Ecke wühlten zwei magere Schweine in einem leeren Trog. Als die beiden Jungen vorbeiliefen, hoben sie neugierig grunzend die Rüssel.

In der verräucherten Küche der Bruchbude mit rußgeschwärzten Wänden und einem Fußboden aus festgestampftem Lehm verbreitete eine Funzel trübes Licht. An der offenen Feuerstelle rührte eine alte, schwarz gekleidete Frau mit einem zerschlissenen Schal über den Schultern in einem großen Kessel. An dem langen Eichentisch in der Mitte des Raums saßen ein Dutzend Kinder im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren – blasse, ungewaschene Mädchen und Jungen in Lumpen. Als Tooler und Jem hereinkamen, drehte die Alte sich um. Im flackernden Schein des Kohlefeuers funkelten ihre wässrigen Augen.

Niemand kannte Mutter Gants Alter, man wusste nur, dass ihr diese Herberge gehörte, solange sich ihre Nachbarn erinnern konnten. Drei Ehemänner hatte sie überlebt; zwei waren an Krankheiten gestorben, und der dritte war eines Nachts spurlos verschwunden. Gerüchten nach hatte man ihn nach einer Kneipenschlägerei mit aufgeschlitzter Kehle in den Fluss geworfen. Niemand hatte diesen Säufer vermisst, am wenigsten seine Frau.

Die Kinder am Tisch waren Waisen und Herumtreiber, die Mutter Gant bei sich aufgenommen hatte – nicht etwa aus Nächstenliebe, sondern aus Habgier. Für das Dach über dem Kopf und das Essen im Bauch mussten die Gören bezahlen – mit Diebesbeute, denn Geld hatten sie ja nicht.

Mutter Gant beherbergte die Waisen. Sie brachte ihnen das Stehlen bei, schickte sie auf die Straße und verhökerte dann die Beute. Und wehe dem, der mit leeren Händen zurückkam!

Als Tooler und Jem ihre für diesen Nachmittag reiche Beute – drei Uhren, zwei Broschen, eine silberne Schnupftabakdose und vier Geldbeutel – stolz auf dem Tisch ausbreiteten, ließ Mutter Gant ihren Kochtopf im Stich und sichtete leise girrend die Schätze. »Das habt ihr gut gemacht, Jungs«, säuselte sie. »Mutter ist sehr erfreut.«