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Dann griff die Alte nach der Schnupftabakdose, betastete sie prüfend, öffnete den Deckel, nahm mit den Fingerspitzen eine Prise heraus, legte sie auf ihren Handrücken, neigte den Kopf und schnupfte laut und genüsslich. Darauf klappte sie den Deckel wieder zu, wischte sich mit dem Ärmel die Krümel von der Oberlippe und ließ hämisch grinsend die Dose in einer der vielen Taschen ihres Rocks verschwinden.

»Heute Abend kriegt ihr eine Extraportion, meine Süßen«, flüsterte sie und kehrte hinkend zur Feuerstelle zurück. »Die, die am härtesten arbeiten, verdienen eine Belohnung. Ist doch richtig, oder?«

In diesem Moment verdunkelte ein Schatten die offen stehende Eingangstür. »Hallo, Mutter Gant. Ist an deinem Tisch noch Platz für einen hungrigen Mann?«

Angst blitzte in den Augen der Alten auf, als der Besucher in den Raum trat.

Der große Mann war mit einem mitternachtsblauen, wadenlangen Reitmantel bekleidet. Darunter trug er eine eng geschnittene schwarze Weste, dazu graue Kniehosen und schwarze, hohe Stiefel. Da er barhäuptig war, fiel sein schwarzes, an den Schläfen ergrautes, langes Haar auf, das er – was für die Mode dieser Zeit ungewöhnlich war – im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Unter seinem linken Auge zeichnete sich entlang des Wangenknochens eine schartige Narbe ab.

Wie von Matthew Hawkwood nicht anders erwartet, brach in dem Raum gleich nach seinem Eintreten die Hölle los. Stühle und Bänke fielen um, als die Kinder wie von einem Wiesel gejagte Kaninchen an ihm vorbei zur Tür liefen. Und die Alte drehte sich bemerkenswert behände um, warf ihre Suppenkelle nach dem unerwünschten Besucher und stieß gleichzeitig einen schrillen Schrei aus. Daraufhin erhob sich eine bis dahin stumm in der Ecke sitzende massige Gestalt.

Mutter Gant hatte drei Söhnen und einer Tochter das Leben geschenkt. Ihr Erstgeborener war wie ihr erster und zweiter Ehemann von den Pocken dahingerafft worden, und auch ihr zweiter Sohn war ihr genommen worden. Mit sechzehn zum Militärdienst eingezogen, war er zwei Monate später vor Marokko gefallen. Eine Kanonenkugel von einer französischen Fregatte hatte ihn zerfetzt. Von ihrer einzigen Tochter wusste Mutter Gant nur, dass sie als Hure in den Straßen von Covent Garden und Haymarket ein erbärmliches Dasein führte. Geblieben war ihr nur Eli, der Jüngste, der bei ihr lebte. Es war jedoch zweifelhaft, ob er eine Trennung von seiner Mutter überlebt hätte, denn mit zwanzig hatte Eli zwar die Statur eines Ringers, Oberarme so dick wie ein junger Eichenbaum und Pratzen wie ein Schmied, aber das Gehirn eines Säuglings. Unfähig, für sich selbst zu sorgen und mehr als die einfachsten Arbeiten zu verrichten, war er nichts als der Sklave seiner verwitweten Mutter. Sie missbrauchte ihn als Lasttier und nutzte seine Körperkraft zu ihrem Schutz und zur Einschüchterung renitenter Kunden bei zwielichtigen Geschäften. Seiner Mutter zu dienen war Elis einziger Lebensinhalt und darum kam er dieser Pflicht bedingungslos nach.

Während die Kinder in Panik zur Tür rannten, tauchte aus der dunklen Ecke, einen Knüppel in der Hand, der mondgesichtige Eli auf. Er hatte wie immer instinktiv auf den Schrei seiner Mutter reagiert. Denn er wusste, dass es Ärger geben und sie seine Hilfe brauchen würde. Das genügte ihm.

Hawkwood war der Suppenkelle geschickt ausgewichen. Ein Anflug von Belustigung erhellte seine finstere Miene, als das Küchengerät von der Wand abprallte und klappernd zu Boden fiel. Als er jedoch dieses monströse Wesen auf sich zukommen sah, wurde sein Gesicht grimmig. Entschlossen stellte er sich dieser neuen Gefahr.

»Halt ihn auf, Eli! Er will deiner Mutter wehtun!«, kreischte die alte Frau. Für seine massige Gestalt griff Eli Gant erstaunlich rasch an.

Aber Hawkwood war schneller, wich dem Knüppel aus und trat Eli gleichzeitig hart zwischen die Beine. Eli klappte der Kiefer herunter, und er sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen. Schon hatte Hawkwood seinen Schlagstock in der Hand und verpasste Eli einen brutalen Hieb an die Schläfe. Der Boden aus festgestampftem Lehm schien zu beben, als der Koloss völlig zusammenbrach. Hawkwood betrachtete die keuchend nach Atem ringende, sich windende Gestalt und schüttelte müde den Kopf. Wie oft er das schon erlebt hatte!

Als er wieder aufblickte, war Mutter Gant verschwunden. Hawkwood fluchte, drehte sich um und bellte: »Rafferty!«

Sofort tauchte in der Tür ein stämmiger Mann mit rotem Kopf und derben Gesichtszügen in der Uniform eines Constables auf: schwarzer Filzhut, zweireihiger blauer Rock mit dazu passender Weste. Verblüfft betrachtete er die auf dem Boden liegende Gestalt und riss die Augen noch weiter auf, als Hawkwood darüber hinwegsprang, den Raum durchquerte und den verschlissenen Vorhang an der hinteren Wand beiseite zog. Hawkwood spähte in den dahinter liegenden dunklen Gang, hörte ein leises schlurfendes Geräusch und sah dann in einiger Entfernung im schwachen flackernden Licht einer Laterne die geduckte, hastig dahineilende Gestalt. Mutter Gant hatte ihren schwachsinnigen Sohn im Stich gelassen und war auf der Flucht.

Hawkwood musste sich beeilen, denn es war nicht zu erkennen, wie lange der Tunnel war, wo er endete und wie viele Ausgänge, Falltüren und verborgene Treppen es in diesem unterirdischen Gewirr aus Gängen zu den darüber liegenden schmalen Gassen gab. Und die alte Frau kannte dieses Labyrinth natürlich in- und auswendig.

Hawkwood blieb keine Zeit, sich eine Laterne zu besorgen, er musste einfach dem schwachen Lichtschein folgen. Schnell drehte er sich um, deutete mit dem Kopf auf den noch immer zusammengekrümmt daliegenden Eli und befahl dem Constable barsch: »Pass auf ihn auf!« Dann umklammerte er fest seinen Schlagstock und verschwand in dem dunklen Loch.

Der Gestank war entsetzlich. Die feuchte, nach Verwesung riechende Luft raubte ihm den Atem und brannte in seinen Augen. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich fest an, aber immer wieder trat er in zähen Schlamm, der sich an seinen Stiefeln festsaugte. Mehr als einmal spitzte er die Ohren und hörte das Piepen und Pfeifen der Ratten.

Er konnte nicht erkennen, woraus die Tunnelwände bestanden. Manchmal berührte er Ziegelsteine, dann wieder verrottetes Holz, das unter seinen Fingern zerbröselte. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er Öffnungen in den Wänden, Gabelungen zu noch mehr Fluchtwegen. Gelegentlich schimmerte durch einen Spalt in einer Wand ein Lichtschimmer, das Flackern einer Kerze, die anzeigte, dass in dieser seltsamen unterirdischen Welt außer Ratten und Mäusen noch andere, höher entwickelte Schädlinge lebten. Und Witwe Gants flackernde Laterne zog ihn immer tiefer in diesen unterirdischen Irrgarten hinein.

Plötzlich erlosch das Licht vor ihm. Hawkwood blieb lauschend stehen, achtete, alle Sinne angespannt, auf die leiseste Bewegung und ging vorsichtig weiter. Er fragte sich, wie weit er in den Tunnel vorgedrungen war. Es kam ihm wie eine Meile vor, aber in der Dunkelheit ließ sich die Entfernung schlecht abschätzen. Wahrscheinlich war er nicht mehr als hundert Schritte gegangen, wenn überhaupt.

Nur noch ein fahler Schein tief am Boden wies ihm jetzt den Weg. Vielleicht senkte sich der Tunnel dort, oder eine Treppe führte hinunter. Plötzlich kam er an eine Biegung, blieb stehen und schloss die Faust noch fester um seinen Schlagstock.

Als er um die Ecke spähte, sah er die Laterne auf der Erde neben dem Schal der alten Frau stehen. Vorsichtig schlich er sich heran, bückte sich und griff nach dem Schal.

Wie eine Fledermaus flatterte in diesem Augenblick von der Wand ein Wesen auf ihn und stieß dabei einen tierischen Laut aus.

Hawkwood fuhr herum, ließ den Schal fallen und sah im Lichtschein eine Messerklinge aufblitzen. Er warf sich beiseite, das Messer zischte knapp an seinem Gesicht vorbei, und er hörte die Alte wütend grunzen, weil sie ihr Ziel verfehlt hatte. Herrgott, wie schnell sie war! Schneller, als er für möglich gehalten hätte. Doch Hass verlieh ihr zusätzliche Kraft. Schon holte sie wieder aus, stieß zu, und er fühlte, wie die rasiermesserscharfe Klinge den Oberärmel seines Mantels aufschlitzte. Blitzschnell nahm er seinen Schlagstock in die linke Hand, wehrte damit das Messer ab und griff gleichzeitig mit der Rechten nach ihrem Handgelenk. Ihr Arm war nicht dicker als der eines Kindes, aber in ihrem gertenschlanken Körper steckte eine erstaunliche Kraft. Während er mit der Rechten so fest zudrückte, dass sie das Messer fallen ließ, hob er den Schlagstock und schlug zu. Er hörte das knirschende Geräusch brechender Knochen. Ihre Schmerzensschreie hallten von den Wänden wider.