Es war unglaublich! Die Alte gab sich noch immer nicht geschlagen. Wieder stürzte sie sich auf ihn, grapschte mit der linken Hand fluchend und spuckend, wie vom Teufel besessen nach seinem Gesicht und wollte ihm mit ihren scharfen Krallen die Augen auskratzen. Der Angriff war so heftig, dass er gegen die Wand prallte und keuchend nach Luft schnappen musste.
Mit einer Hand klammerte sie sich an ihn, trat um sich, spuckte und stieß immer wieder nach seinen Augen. Speichel rann ihm übers Gesicht, er spürte ihren heißen, widerlich stinkenden Atem auf seinen Wangen. Irgendwie musste er dem ein Ende bereiten. Er trieb ihr den Schlagstock in den Magen, spürte, wie sie ihren Griff an seinem Kragen lockerte, rammte ihr mit aller Kraft seine Faust in die Rippen und stieß sie von sich.
Mit einem dumpfen Geräusch prallte ihr Kopf gegen die Wand. Der Schrei erstarb ihr auf den Lippen, als ihr zierlicher Körper in sich zusammensackte. Mit verrenkten Gliedern, den Rock über den Knien und nach Luft ringend lag sie da.
Hawkwood richtete sich auf und wischte sich den Speichel vom Kinn. »Verdammtes Miststück!«, fluchte er.
Die verkrümmte Gestalt zu seinen Füßen stöhnte leise.
Hawkwood steckte seinen Schlagstock wieder unter seinen Mantel und hob den Schal auf. Damit fesselte er Mutter Gants Handgelenke, ohne auf ihren gebrochenen Arm Rücksicht zu nehmen. Im matten Schein der Laterne sah er ihre vor Schmerz glasigen Augen. Jetzt war ihre Widerstandskraft endlich gebrochen. Dann griff er nach der Laterne, hielt sie hoch, packte die alte Frau am Kragen und zerrte ihren schlaffen Körper hinter sich her durch den Tunnel zurück in die Herberge.
2
Constable Edmund Rafferty stand in der verdreckten Küche. Er kratzte sich den Bauch und betrachtete die auf dem Tisch ausgebreitete, wertvolle Diebesbeute. Gleichzeitig hatte er ein wachsames Auge auf Eli Gant, der sich von dem Hieb erholt hatte und nun an der Wand lehnte. Er wiegte sich langsam von einer Seite zur anderen und starrte finster auf die Handschellen an seinen Gelenken. In dieser misslichen Lage sah er so harmlos wie ein zu groß geratener Hundewelpe aus.
Wieder warf Rafferty verstohlen einen Blick auf den Tisch und zuckte zusammen, als jemand hinter ihm sagte: »Wir haben vier kleine Bettler geschnappt, Ire. Was sollen wir mit denen machen?«
Der dünne Mann mit dem Frettchengesicht war ähnlich wie Rafferty gekleidet, nur hatte er eine scharlachrote Weste anstatt einer blauen an. Mit der rechten Hand hielt er einen Knirps am Schlafittchen gepackt, sodass die Zehenspitzen des Kleinen kaum den Boden berührten. Der Junge versuchte, sich strampelnd zu befreien, wofür er sofort mit einem heftigen Klaps auf den Hinterkopf bestraft wurde.
Rafferty musterte die Gestalt an der Tür verächtlich. »Halt ihn fest, Constable Warbeck, bis ich dir etwas anderes befehle. Sei ein guter Junge und bring diesen Schmutzfink jetzt nach draußen.«
Der Constable tippte an seinen Hut und ging. Rafferty stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er war der Ansicht, dass Constable Warbeck im Gegensatz zu ihm nicht gerade mit Verstand gesegnet sei, und dessen Angewohnheit, ihn »Iren« zu nennen, ärgerte ihn zunehmend. Leider war Warbeck mit Raffertys jüngerer Schwester, Alice, verheiratet. Sie hatte ihren Bruder dazu überredet, Warbeck bei der Polizei unterzubringen. Mittlerweile hatte er jedoch ernste Bedenken, ob dieser Akt der Nächstenliebe richtig gewesen sei. Nicht zuletzt, weil sich der Constable als zu dumm oder zu unfähig erweisen könnte, bei passender Gelegenheit ein Auge zuzudrücken.
Der Junge muss noch viel lernen, dachte Rafferty. Aber vielleicht wird ja noch was aus ihm.
Er ging zum Tisch zurück und betrachtete wieder gierig die Sammlung aus Geldbeuteln und Schmuck. Dann warf er einen hastigen Blick über seine Schulter und vergewisserte sich, dass er nicht beobachtet wurde, ehe er den Inhalt der Brieftaschen untersuchte. In mehreren fand er zu seiner Freude Geldscheine, nahm je einen heraus und legte die Brieftaschen wieder auf den Tisch. Dann griff er mit funkelnden Augen nach der Taschenuhr.
Es war ein edles Stück aus massivem Gold mit dazu passender Panzerkette. Die Uhr hatte zweifelsohne einem Gentleman gehört. Rafferty hielt den Chronometer an sein Ohr. Das Ticken klang wie leise Herzschläge. Mit seinem eingerissenen Fingernagel fuhr er unter die Schließe und wollte den Deckel gerade aufklappen, als er Schritte und ein seltsam schleifendes Geräusch hörte. Hastig steckte Rafferty die Uhr in seine Manteltasche. Gerade noch rechtzeitig. Er setzte ein breites Grinsen auf, als Hawkwood, Mutter Gant hinter sich herschleifend, den Vorhang beiseite schob und in die Küche trat.
»Tja, also, Captain, ich habe mich schon gefragt, wo Sie geblieben sind. Ich dachte, wir müssten einen Suchtrupp losschicken, ja wirklich«, brabbelte Rafferty. Dann erst sah er die Witwe Gant, die am Boden lag und das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Sie warf Hawkwood einen derart bösen, hasserfüllten Blick zu, dass es ihn fröstelte.
»Ah, Sie haben die alte Hexe also erwischt«, sagte Rafferty und musterte missbilligend den Riss in Hawkwoods Ärmel. »Hat Ihnen wohl Ärger gemacht, wie?«
Hawkwood zerrte die alte Frau durch den Raum und ließ sie neben ihren Sohn plumpsen. Als er aufblickte, waren seine Augen so dunkel wie ein Grab.
»Wie viele habt Ihr erwischt?«
»Vier«, sagte Rafferty und seufzte. »Der Rest ist entkommen. Meine Jungs halten sie draußen fest.« Seine Forschheit geriet unter Hawkwoods Blick beträchtlich ins Wanken. Der harte Ausdruck in den Augen des Captains ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Als Hawkwood nur nickte, atmete er erleichtert auf.
»Das ist mehr, als wir erwartet haben. Bringt Sie fort.«
»In Ordnung«, sagte Rafferty und trat Eli Gant ans Schienbein. »Steh auf! Du auch, Mutter Gant, sonst trete ich dir in deinen mageren Arsch.«
Hawkwood wandte sich ab, während Rafferty die beiden zur Tür schaffte.
»Halt!«
Bei dem scharfen Ton blieb Rafferty abrupt in der offenen Tür stehen. Ein kalter Wind streifte seinen Rücken. Als er sich umdrehte und Hawkwoods Blick auf sich gerichtet sah, schnürte es ihm vor Angst die Kehle zu.
Der Bastard weiß es!
»Geben Sie mir die Uhr, Rafferty!«, befahl Hawkwood und streckte die Hand aus.
»Hä?«, stammelte Rafferty unschuldig. Er wusste jedoch instinktiv, dass ihn diese einzige Silbe verraten hatte. Dünkel und Furcht zwangen ihn jedoch, einen letzten halbherzigen Versuch zu unternehmen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
»Uhr? Was für eine Uhr? Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Ich sage es nur noch einmal, Constable«, entgegnete Hawkwood mit steinerner Miene. »Einen Fehler haben Sie schon begangen. Schlimm genug. Geben Sie mir die Uhr.«
Obwohl Rafferty alles abstritt, wusste er, dass er das Spiel verloren hatte. Jetzt konnte er nur noch versuchen, mit einem blauen Auge davonzukommen. Er runzelte die Stirn, als würde er scharf nachdenken, und grinste dann breit.
»Ach, du liebe Muttergottes! Ja natürlich! Was habe ich mir nur dabei gedacht? Na klar. Da habe ich die Uhr doch glatt in meine Tasche gesteckt, damit sie nicht wegkommt. Und nicht mehr daran gedacht. Mein Gedächtnis bringt mich noch mal ins Grab. Da ist sie ja! Gut, dass Sie mich daran erinnert haben, sonst hätte ich’s wohl glatt vergessen und sie mitgenommen.«