Lawrence und Fitzhugh sahen sich erstaunt an. »Warum denn das?«, fragte der Major.
»Weil er das Gesetz ist, deswegen.«
»Das Gesetz?«, wiederholte Lawrence und hob die Brauen.
»Er arbeitet als Constable und erledigt spezielle Aufgaben für die Bow Street. Runner heißen solche Leute bei uns. Das sind gemeine Scheißkerle. Allesamt.« Der Händler spuckte auf das Kopfsteinpflaster. »Passt bloß auf, Sir. Solltet Ihr je mit dem Gesetz in Konflikt geraten, könnt Ihr nur hoffen, dass der Mann sich nicht an Eure Fersen heftet.«
»Na, so was«, wunderte sich Major Lawrence und fügte hinzu: »Aber wie heißt er, Mann! Kennst du seinen Namen?«
Die Miene des Süßwarenverkäufers verhärtete sich. »Seinen Namen? Und ob ich den Namen kenne. Er heißt Hawkwood. Möge er in der Hölle schmoren. Na, Gentlemen, wollt Ihr nicht etwas kaufen?«, fragte er und deutete auf seinen Bauchladen.
Aber der Major reagierte nicht. Er schien unter Schock zu stehen und starrte über den Hof, dorthin, wo der dunkelhaarige Mann verschwunden war. Als Leutnant Fitzhugh den Händler wegscheuchte, humpelte der vor sich hin schimpfend davon.
»Was ist mit Ihnen, Major?«, wollte Fitzhugh wissen. »Haben Sie etwa einen Geist gesehen?«
Lawrence stand noch immer wie versteinert da. Dann sagte er: »Vielleicht habe ich das.« Er sah den Leutnant an und lächelte wehmütig. »Bei Gott, Fitz, was ist das Gedächtnis doch für eine launische Geliebte!«
»Sie kennen diesen Mann also? Sie sind ihm schon mal begegnet?«
»O ja, das kann man wohl sagen«, antwortete Lawrence leise, ehe er geistesabwesend murmelte: »Und damals waren wir beide verdammt weit weg von zu Hause.«
Leutnant Fitzhugh wartete auf eine ausführlichere Erklärung, aber diesen Gefallen tat ihm der Major nicht. Stattdessen nickte er in Richtung Taverne: »Ich brauche jetzt einen steifen Brandy, lieber Fitz. Wir begeben uns in dieses Wirtshaus, und ich spendiere uns von meinem Wettgewinn ein oder zwei Gläschen.« Dann schlug er seinem Kameraden auf die Schulter und versprach: »Wer weiß? Vielleicht fällt mir dabei eine interessante Geschichte ein.«
Aus dem Schatten eines Torbogens beobachtete Hawkwood, wie der Major und der Leutnant in die Schenke gingen. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, Lawrence wieder zu begegnen. Er hatte den Major sofort wiedererkannt und zudem die Widmung gelesen, die in den Uhrendeckel eingraviert war.
Leutnant D.C. Lawrence, 40. Regiment
Einem ritterlichen Offizier
mit aufrichtigem Dank, Auchmuty
Februar 1807
Diese Widmung bewies, dass die Uhr nicht nur ein Zeitmesser, sondern eine Belohnung für eine Tat von außerordentlicher Tapferkeit und für den Besitzer somit wohl mehr wert war als Gold. Hawkwood war nicht entgangen, wie verstört der Major reagierte, als er den Verlust seiner Taschenuhr bemerkt hatte. Es wäre eine Schande gewesen, hätte er Constable Rafferty nicht daran gehindert, dieses Beutestück verschwinden zu lassen. Hawkwood fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viele gestohlene Gegenstände wohl den rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben wurden. Herzlich wenige, vermutete er. Leider kam es bei Männern wie Rafferty, diesen angeblichen Hütern des Gesetzes, zu häufig vor, dass sie in die eigenen Taschen arbeiteten.
Dann kehrten Hawkwoods Gedanken zu dem Major zurück. Instinktiv hatte er sofort beschlossen, dem Offizier seine Uhr zurückzugeben. Ob er dies aus Pflichtgefühl getan hatte oder weil er glaubte, einem ehemaligen Waffenbruder diesen Dienst schuldig zu sein, wollte er nicht ergründen. Immerhin war ihre Kameradschaft von äußerst flüchtiger Dauer gewesen. Aber er hatte ohne zu zögern gehandelt.
Warum habe ich also die Bekanntschaft geleugnet?, fragte sich Hawkwood. Diese Frage ist leicht zu beantworten. Es hat keinen Sinn, alte Wunden wieder aufzureißen, dachte er und schüttelte den Kopf. Diese zufällige Begegnung hat plötzlich das Rad der Zeit zurückgedreht. Und böse Erinnerungen hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Nein, was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe jemandem einen Dienst erwiesen, wie es die Pflicht eines Beamten erfordert. Alles spielt keine Rolle. Damit ist die Sache für mich erledigt.
Hawkwood wollte gerade weitergehen, als ihn ein diskretes Räuspern aus seinen Tagträumen riss. Neben ihm stand ein kleiner, o-beiniger Mann mit spitzer Nase. Er trug einen schwarzen Rock mit Kniehosen und unter seinem ebenfalls schwarzen Dreispitz eine altmodische gepuderte Perücke. Die blinzelnden Augen hinter der halbmondförmigen Brille verliehen ihm das Aussehen einer Eule.
»So, so, Mr. Twigg«, grüßte ihn Hawkwood mit einem frostigen Lächeln. »Und wem verdanken wir diese unerwartete Freude?« Als ob ich das nicht wüsste!, dachte er resigniert.
Der kleine Mann überhörte den beißenden Spott und stieß einen kummervollen Seufzer aus, ehe er ihm seine Nachricht überbrachte: »Richter Read lässt grüßen und bittet Sie, sofort zu ihm zu kommen.«
»Er ›bittet‹, Mr.Twigg?«, entgegnete Hawkwood mit hochgezogenen Brauen. »Das bezweifle ich. Und wo erwartet er mich sofort?«
»In seinem Amtszimmer in der Bow Street.«
Während Ezra Twigg sprach, ließ er seinen Blick über den Hof schweifen. Mittlerweile hatte sich die Menschenmenge zerstreut, und auch der Gottesprediger hatte seine provisorische Kanzel abgebaut und steuerte zielstrebig auf die Taverne zu. Nur ein paar Händler boten noch ihre Waren feil. Neben dem Ring saß Reuben Benbow inmitten seiner Getreuen. Er ließ sich seine gebrochenen Rippen bandagieren und feierte seinen hart erkämpften Sieg.
Mit einem berechnenden Funkeln in den Augen nahm der Sekretär des Obersten Richters jetzt seine Brille ab, hauchte die Gläser an und rieb sie an seinem Rockärmel blank.
»Sie hatten Recht, Ezra«, sagte Hawkwood und grinste. »Der Mann aus Cornwall war der bessere Kämpfer.«
Ezra Twigg setzte seine Brille wieder auf, blinzelte kurzsichtig zu Hawkwood hoch, zuckte mit den Mundwinkeln und blickte vielsagend zu der offenen Tavernentür.
Hawkwood klopfte dem kleinen Mann auf die Schulter. »Ist schon gut, Ezra. Wir sehen uns dann in der Bow Street.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Hawkwood um und ging davon. Hätte er einen Blick über die Schulter geworfen, hätte er Ezra Twigg gebeugte Gestalt federnden Schritts zur Taverne eilen sehen.
Während sich Hawkwood auf den Weg durch das Gewirr der Höfe und Gassen machte, wurden die Schatten länger.
Die paar Gaslaternen hier im West End schreckten keine Straßenräuber ab, in den dunklen Durchgängen ungestraft ihr verbrecherisches Wesen zu treiben. Sogar bei helllichtem Tag wurde man hier von Huren angesprochen oder von Dieben bestohlen. Bei Nacht drohten unvorsichtigen Fußgängern in diesen finsteren Vierteln von London zusätzliche Gefahren. Sogar Polizisten und Wachmänner hatten Angst, durch diese Gassen zu patrouillieren.
Hawkwood jedoch schritt, sich seiner Autorität bewusst, unbehelligt voran. Seine bedrohlich wirkende Haltung und die Narbe in seinem Gesicht ließ andere Männer hastig beiseite treten.
Hawkwood kannte diese zwielichtige Gegend, aber er hatte sich an die lauernden Gefahren gewöhnt. London war eine Brutstätte für jedes nur erdenkliche Verbrechen, und als Bow Street Runner kannte er die dunkle Seite der Stadt besser, als ihm lieb war. Die schattigen, mit Abfall übersäten Gassen bargen für ihn keine Überraschungen. Trotzdem ließ er in seiner Wachsamkeit nie nach und war ständig auf der Hut.
3
Also, Sir«, sagte Leutnant Fitzhugh, »wer war dieser Samariter?«
Die beiden Offiziere saßen bei Kerzenlicht in einer Nische des Blind Fiddler und tranken spanischen Brandy. Der Faustkampf hatte zusätzliche Gäste angelockt, und deshalb herrschte in der Schankstube reges Treiben.