»Ein verdammt merkwürdiger Berufswechsel«, überlegte Leutnant Fitzhugh laut und nippte an seinem Becher. »Vom Scharfschützen zum Runner.«
»Und wie ich ihn einschätze, ist er ein verdammt tüchtiger Polizist«, entgegnete Lawrence und fügte nachdenklich hinzu:
»Obwohl ich bezweifle, dass er dadurch viele Freunde gewonnen hat.«
Ehe sich der Leutnant zu dieser Bemerkung äußern konnte, stand der Major auf, leerte sein Glas, klopfte seinen Pfeifenkopf am Tischbein aus und musste beim Anblick des Gesichtsausdrucks des Leutnants grinsen. »Na los, Fitz. Trinken Sie aus. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Die Serviererin hat derart mit Ihnen geschäkert, dass mir unsere Verabredung bei Mistress Flanagha wieder eingefallen ist. Die drallen Möpse dieser kleinen Hure sind eine Augenweide und haben meinen Appetit geweckt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, steckte der Major seine Pfeife ein, griff nach seinem Tschako und ging zur Tür.
Als Fitzhugh merkte, dass er einfach sitzen gelassen wurde, kippte er seinen Brandy hinunter und folgte dem Major nach draußen.
Während die beiden Offiziere durch die dunkle Straße ihrem Ziel entgegenstrebten, kehrten Major Lawrences Gedanken zu der Begegnung im Hof der Taverne zurück. Natürlich hätte er Fitzhugh mehr über den wortkargen Exscharfschützen erzählen können, aber ein gewisser Ausdruck in Hawkwoods Augen hatte ihm Zurückhaltung geboten. Ganz offensichtlich wollte Hawkwood seine Vergangenheit – aus welchen Gründen auch immer – im Dunkeln lassen. Geistesabwesend tastete der Major nach der Uhrenkette, vergewisserte sich, dass die Taschenuhr noch unter seiner Schärpe steckte, und atmete erleichtert auf. Die Vergangenheit war eine rein persönliche Angelegenheit, und Hawkwood zog es eindeutig vor, anonym zu bleiben. Und Fitzhugh musste sich damit abfinden, nur einen Teil der Geschichte zu kennen.
Lawrence strich mit dem Daumen über den Uhrendeckel und dachte: Das zumindest bin ich Hawkwood schuldig.
Langsam füllten sich die Straßen mit abendlichen Flaneuren, als sich Hawkwood auf den Weg zur Bow Street machte. Theaterbesucher versammelten sich unter dem Portikus des Richmond Theatre, während andere zum Lyceum und dem Aldwych unterwegs waren. Imbissstuben, auffällig dekorierte Wirtshäuser, Bordelle und Tavernen im und um den Covent Garden waren bereits berstend voll. Dandys, Zuhälter und Prostituierte mischten sich unter die Müßiggänger. Pferdekutschen bahnten sich lärmend ihren Weg durch das Gedränge, und von irgendwoher tönte die jaulende Melodie eines Leierkastens.
Bow Street Nr. 4 war ein schmales, fünfstöckiges Gebäude mit unauffälliger Fassade. Bis auf das zusätzliche Stockwerk unterschied es sich kaum von den angrenzenden Gebäuden. Dem Raum im rückwärtigen Teil des Erdgeschosses verdankte dieses Gebäude jedoch seinen Namen. Für die Beschäftigten war es schlicht »der Laden«, während es bei den Stadtbewohnern als das »Amt« bekannt war.
Hawkwood drängte sich durch die Hand voll Müßiggänger auf der Eingangstreppe, trat durch die offene Tür und folgte dem schmalen Korridor zur Rückseite des Hauses. Seine Schritte hallten hohl auf den Holzdielen wider.
Die Büros waren noch nicht geschlossen. Mit Akten und Papieren beladene Boten eilten im Licht der Kerzen durch die Korridore. In dem überfüllten Raum des Amts fand noch eine Gerichtsverhandlung statt, und der Vorsitzende folgte der Verhandlung mit einem Ausdruck äußerster Langeweile auf seinem asketischen Gesicht.
Hawkwood zog seinen Reitmantel aus und ging die Treppe in den ersten Stock zum privaten Amtszimmer des Obersten Richters hoch. Vor der Tür legte er seinen Mantel über die Lehne eines Stuhls und klopfte dann einmal.
»Herein!«, rief jemand in barschem Ton.
In dem quadratischen, mit Eiche getäfelten Raum hingen mehrere Porträts: mürrische, wachsfarbene Gesichter von Amtsvorgängern in dunklen Anzügen. Vor den Vorhängen der hohen Fenster stand ein Schreibtisch und links von Hawkwood befand sich der hohe Kamin, der von zwei hochlehnigen Polstersesseln eingerahmt wurde und in dem Holzscheite loderten. Das hypnotische Ticken einer Standuhr in der Ecke betonte die feierliche Atmosphäre des Amtszimmers.
Der silberhaarige Mann am Schreibtisch nahm von Hawkwoods Eintreten keine Notiz, sondern schrieb weiter. Allein das Kratzen seiner Feder über das Papier unterbrach die Stille.
Hawkwood wartete.
Schließlich blickte der Mann auf, stellte die Feder in das Tintenfass, ordnete seine Papiere und betrachtete Hawkwood kurz, ehe er fragte: »Die Operation gegen dieses Gant-Weib ist gut verlaufen, nehme ich an?«
»Besser, als ich erwartet hatte«, sagte Hawkwood und erntete dafür nur ein Stirnrunzeln. »Ich hatte befürchtet, wir würden nicht nahe genug an sie herankommen, um ihrer habhaft zu werden. Vielleicht wird die Witwe auf ihre alten Tage nachlässig, denn sie hatte keine Aufpasser postiert.«
Der silberhaarige Mann dachte kurz über diese Information nach, ehe er weiterfragte: »Ist sie in Gewahrsam?«
»Ja. Zusammen mit ihrem schwachsinnigen Sohn. Die beiden sitzen in den Zellen gegenüber.«
Seltsamerweise standen dem Bow-Street-Amt keine Häftlingszellen zur Verfügung. Deshalb gab es seit langem eine Vereinbarung mit dem Wirt des Pubs Brown Bear auf der anderen Straßenseite, der gegen eine geringe Gebühr als Zellen benutzbare Zimmer an die Behörde vermietete.
»Ausgezeichnet«, lobte der Silberhaarige und nickte zufrieden. »Morgen werden wir uns um die beiden kümmern. Gab’s bei der Festnahme Probleme?«
Hawkwood dachte an den Riss im Ärmel seines Mantels, antwortete jedoch: »Keine, mit denen ich nicht fertig geworden bin.«
»Und was ist mit den Kindern?«
»Ich habe dem Constable Anweisung gegeben, sie nach Bridewell zu bringen.«
»Ins Arbeitshaus? Es wird den Kindern leicht fallen, von dort zu fliehen«, überlegte der silberhaarige Mann und seufzte. Dann stützte er sich mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte und stand langsam auf.
James Read hatte seit fünf Jahren das Amt des Obersten Richters inne. Er war mittleren Alters und sein adlerartiges Gesicht wurde durch das nach hinten gekämmte Haar noch betont. Seiner Position entsprechend kleidete er sich konservativ. Doch sein korrektes Erscheinungsbild war trügerisch, denn er besaß einen ziemlich trockenen, sogar sarkastischen Humor. In einem unterschied er sich jedoch von seinen vornehmen Vorgängern, die wie er mit Leib und Seele Richter gewesen waren: Er hatte die Erhebung in den Ritterstand, die mit diesem Amt verbunden war, abgelehnt. Ob aus Gleichgültigkeit dieser Ehre gegenüber oder wegen seiner Abstammung aus einer bescheidenen methodistischen Familie, sei dahingestellt.
James Read durchquerte den Raum, stellte sich mit dem Rücken zum Kamin vor das lodernde Feuer und hob seine Rockschöße. »In diesem verdammten Haus zieht es wie in einer Scheune. Selbst jetzt, im Mittsommer, bin ich bis auf die Knochen durchgefroren.«
Wortlos musterte er im flackernden Schein der Flammen Hawkwood, sein unmodisch langes Haar und sein kräftiges, beinahe arrogantes narbiges Gesicht. Es ist ein grausames Gesicht, mit diesen dunklen, grüblerischen Augen, dachte er. Manche Frauen aber finden es wahrscheinlich unwiderstehlich.
»Ich habe einen neuen Auftrag für Sie«, sagte Read, jetzt mit ernster Miene, glättete seinen Rock und trat vom Feuer zurück. »Gestern Abend wurden bei einem Überfall auf eine Kutsche zwei Menschen getötet: der Wachmann und ein Passagier.«
»Wo ist das passiert?«
»Nördlich von Camberwell auf der Straße nach Kent.«
Hawkwood kannte die Gegend. Das bewaldete Heide- und Weideland war ein beliebter Zufluchtsort für Straßenräuber und anderes Gesindel. In letzter Zeit waren jedoch wegen der wieder eingeführten schwer bewaffneten Reiterpatrouillen, ehemalige Kavalleristen zur Bewachung der Reiserouten von und in die Hauptstadt, Überfälle selten geworden.