Er kehrte sich wieder um und fragte höflich, aber wie zum Scherz: »Fahren Sie mit, Kommissär?«
»Ja, Tschanz, ich fahre mit«, antwortete der unerwartet.
»Gut«, sagte Tschanz etwas verwirrt, denn er hatte nicht damit gerechnet, »um sieben.«
In der Türe kehrte er sich noch einmal um: »Sie waren doch auch bei Frau Schönler, Kommissär Bärlach. Haben Sie denn dort nichts gefunden?« Der Alte antwortete nicht sogleich, sondern verschloß erst die Mappe im Schreibtisch und nahm dann den Schlüssel an sich.
»Nein, Tschanz«, sagte er endlich, »ich habe nichts gefunden. Sie können nun gehen.«
Um sieben Uhr fuhr Tschanz zu Bärlach in den Altenberg, wo der Kommissär seit dreiunddreißig in einem Hause an der Aare wohnte. Es regnete, und der schnelle Polizeiwagen kam in der Kurve bei der Nydeggbrücke ins Gleiten. Tschanz fing ihn jedoch gleich wieder auf. In der Altenbergstraße fuhr er langsam, denn er war noch nie bei Bärlach gewesen, und spähte durch die nassen Scheiben nach dessen Hausnummer, die er mühsam erriet. Doch regte sich auf sein wiederholtes Hupen niemand im Haus. Tschanz verließ den Wagen und eilte durch den Regen zur Haustüre. Er drückte nach kurzem Zögern die Falle nieder, da er in der Dunkelheit keine Klingel finden konnte. Die Türe war unverschlossen, und Tschanz trat in einen Vorraum. Er sah sich einer halboffenen Türe gegenüber, durch die ein Lichtstrahl fiel. Er schritt auf die Türe zu und klopfte, erhielt jedoch keine Antwort, worauf er sie ganz öffnete. Er blickte in eine Halle. An den Wänden standen Bücher, und auf dem Diwan lag Bärlach. Der Kommissär schlief, doch schien er schon zur Fahrt an den Bielersee bereit zu sein, denn er war im Wintermantel. In der Hand hielt er ein Buch. Tschanz hörte seine ruhigen Atemzüge und war verlegen. Der Schlaf des Alten und die vielen Bücher kamen ihm unheimlich vor. Er sah sich sorgfältig um. Der Raum besaß keine Fenster, doch in jeder Wand eine Türe, die zu weiteren Zimmern führen mußte. In der Mitte stand ein großer Schreibtisch. Tschanz erschrak, als er ihn erblickte, denn auf ihm lag eine große, eherne Schlange.
»Die habe ich aus Konstantinopel mitgebracht«, kam nun eine ruhige Stimme vom Diwan her, und Bärlach erhob sich.
»Sie sehen, Tschanz, ich bin schon im Mantel. Wir können gehen.«
»Entschuldigen Sie mich«, sagte der Angeredete immer noch überrascht, »Sie schliefen und haben mein Kommen nicht gehört. Ich habe keine Klingel an der Haustüre gefunden.«
»Ich habe keine Klingel. Ich brauche sie nicht; die Haustüre ist nie geschlossen.«
»Auch wenn Sie fort sind?«
»Auch wenn ich fort bin. Es ist immer spannend, heimzukehren und zu sehen, ob einem etwas gestohlen worden ist oder nicht.«
Tschanz lachte und nahm die Schlange aus Konstantinopel in die Hand.
»Mit der bin ich einmal fast getötet worden«, bemerkte der Kommissär etwas spöttisch, und Tschanz erkannte erst jetzt, daß der Kopf des Tieres als Griff zu benutzen war und dessen Leib die Schärfe einer Klinge besaß. Verdutzt betrachtete er die seltsamen Ornamente, die auf der schrecklichen Waffe funkelten. Bärlach stand neben ihm.
»Seid klug wie die Schlangen«, sagte er und musterte Tschanz lange und nachdenklich. Dann lächelte er: »Und sanft wie die Tauben«, und tippte Tschanz leicht auf die Schultern. »Ich habe geschlafen. Seit Tagen das erste Mal. Der verfluchte Magen.«
»Ist es denn so schlimm«, fragte Tschanz.
»Ja, es ist so schlimm«, entgegnete der Kommissär kaltblütig.
»Sie sollten zu Hause bleiben, Herr Bärlach, es ist kaltes Wetter und es regnet.«
Bärlach schaute Tschanz aufs neue an und lachte: »Unsinn, es gilt einen Mörder zu finden. Das könnte Ihnen gerade so passen, daß ich zu Hause bleibe.«
Wie sie nun im Wagen saßen und über die Nydeggbrücke fuhren, sagte Bärlach: »Warum fahren Sie nicht über den Aargauerstalden nach Zollikofen, Tschanz, das ist doch näher als durch die Stadt?«
»Weil ich nicht über Zollikofen-Biel nach Twann will, sondern über Kerzers-Erlach.«
»Das ist eine ungewöhnliche Route, Tschanz.«
»Eine gar nicht so ungewöhnliche, Kommissär.«
Sie schwiegen wieder. Die Lichter der Stadt glitten an ihnen vorbei. Aber wie sie nach Bethlehem kamen, fragte Tschanz:
»Sind Sie schon einmal mit Schmied gefahren?«
»Ja, öfters. Er war ein vorsichtiger Fahrer.« Und Bärlach blickte nachdenklich auf den Geschwindigkeitsmesser, der fast Hundertzehn zeigte.
Tschanz mäßigte die Geschwindigkeit ein wenig. »Ich bin einmal mit Schmied gefahren, langsam wie der Teufel, und ich erinnere mich, daß er seinem Wagen einen sonderbaren Namen gegeben hatte. Er nannte ihn, als er tanken mußte. Können Sie sich an diesen Namen erinnern? Er ist mir entfallen.«
»Er nannte seinen Wagen den blauen Charon«, antwortete Bärlach.
»Charon ist ein Name aus der griechischen Sage, nicht wahr?«
»Charon fuhr die Toten in die Unterwelt hinüber, Tschanz.«
»Schmied hatte reiche Eltern und durfte das Gymnasium besuchen. Das konnte sich unsereiner nicht leisten. Da wußte er eben, wer Charon war, und wir wissen es nicht.«
Bärlach steckte die Hände in die Manteltaschen und blickte von neuem auf den Geschwindigkeitsmesser. »Ja, Tschanz«, sagte er, »Schmied war gebildet, konnte Griechisch und Lateinisch und hatte eine große Zukunft vor sich als Studierter, aber trotzdem würde ich nicht mehr als Hundert fahren.«
Kurz nach Gümmenen, bei einer Tankstelle, hielt der Wagen jäh an. Ein Mann trat zu ihnen und wollte sie bedienen.
»Polizei«, sagte Tschanz. »Wir müssen eine Auskunft haben.«
Sie sahen undeutlich ein neugieriges und etwas erschrockenes Gesicht, das sich in den Wagen beugte.
»Hat bei Ihnen ein Autofahrer vor zwei Tagen angehalten, der seinen Wagen den blauen Charon nannte?«
Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, und Tschanz fuhr weiter. »Wir werden den nächsten fragen.«
An der Tankstelle von Kerzers wußte man auch nichts.
Bärlach brummte: »Was Sie treiben, hat keinen Sinn.«
Bei Erlach hatte Tschanz Glück. So einer sei am Mittwochabend dagewesen, erklärte man ihm.
»Sehen Sie«, meinte Tschanz, wie sie bei Landeron in die Straße Neuenburg-Biel einbogen, »jetzt wissen wir, daß Schmied am Mittwochabend über Kerzers-Ins gefahren ist.«
»Sind Sie sicher?« fragte der Kommissär.
»Ich habe Ihnen den lückenlosen Beweis geliefert.«
»Ja, der Beweis ist lückenlos. Aber was nützt Ihnen das, Tschanz?« wollte Bärlach wissen.
»Das ist nun eben so. Alles, was wir wissen, hilft uns weiter«, gab der zur Antwort.
»Da haben Sie wieder einmal recht«, sagte darauf der Alte und spähte nach dem Bielersee. Es regnete nicht mehr. Nach Neuveville kam der See aus den Nebelfetzen zum Vorschein. Sie fuhren in Ligerz ein. Tschanz fuhr langsam und suchte die Abzweigung nach Lamboing.
Nun kletterte der Wagen die Weinberge hinauf. Bärlach öffnete das Fenster und blickte auf den See hinunter. Über der Petersinsel standen einige Sterne. Im Wasser spiegelten sich die Lichter, und über den See raste ein Motorboot. Spät um diese Jahreszeit, dachte Bärlach. Vor ihnen in der Tiefe lag Twann und hinter ihnen Ligerz.
Sie nahmen eine Kurve und fuhren nun gegen den Wald, den sie vor sich in der Nacht ahnten. Tschanz schien etwas unsicher und meinte, vielleicht gehe dieser Weg nur nach Schernelz. Als ihnen ein Mann entgegenkam, stoppte er. »Geht es hier nach Lamboing?«
»Nur immer weiter und bei der weißen Häuserreihe am Waldrand rechts in den Wald hinein«, antwortete der Mann, der in einer Lederjacke steckte und seinem Hündchen pfiff, das weiß mit einem schwarzen Kopf im Scheinwerferlicht tänzelte.
»Komm, Ping-Ping!«
Sie verließen die Weinberge und waren bald im Wald. Die Tannen schoben sich ihnen entgegen, endlose Säulen im Licht. Die Straße war schmal und schlecht, hin und wieder klatschte ein Ast gegen die Scheiben. Rechts von ihnen ging es steil hinunter. Tschanz fuhr so langsam, daß sie ein Wasser in der Tiefe rauschen hörten.