Und jetzt warf er, mit einer fast unmerklichen Bewegung der Hand, das Messer, genau und scharf Bärlachs Wange streifend, tief in den Lehnstuhl. Der Alte rührte sich nicht. Der andere lachte:
»Du glaubst nun also, ich hätte diesen Schmied getötet?«
»Ich habe diesen Fall zu untersuchen«, antwortete der Kommissär.
Der andere stand auf und nahm die Mappe zu sich.
»Die nehme ich mit.«
»Einmal wird es mir gelingen, deine Verbrechen zu beweisen«, sagte nun Bärlach zum zweiten Male: »Und jetzt ist die letzte Gelegenheit.«
»In der Mappe sind die einzigen, wenn auch dürftigen Beweise, die Schmied in Lamboing für dich gesammelt hat. Ohne diese Mappe bist du verloren. Abschriften oder Fotokopien besitzest du nicht, ich kenne dich.«
»Nein«, gab der Alte zu, »ich habe nichts dergleichen.«
»Willst du nicht den Revolver brauchen, mich zu hindern?« fragte der andere spöttisch.
»Du hast die Munition herausgenommen«, antwortete Bärlach unbeweglich.
»Eben«, sagte der andere und klopfte ihm auf die Schultern. Dann ging er am Alten vorbei, die Türe öffnete sich, schloß sich wieder, draußen ging eine zweite Türe. Bärlach saß immer noch in seinem Lehnstuhl, die Wange an das kalte Eisen des Messers gelehnt. Doch plötzlich ergriff er die Waffe und schaute nach. Sie war geladen. Er sprang auf, lief in den Vorraum und dann zur Haustür, die er aufriß, die Waffe in der Faust:
Die Straße war leer.
Dann kam der Schmerz, der ungeheure, wütende, stechende Schmerz, eine Sonne, die in ihm aufging, ihn aufs Lager warf, zusammenkrümmte, mit Fiebergluten überbrühte, schüttelte. Der Alte kroch auf Händen und Füßen herum wie ein Tier, warf sich zu Boden, wälzte sich über den Teppich und blieb dann liegen, irgendwo in seinem Zimmer, zwischen den Stühlen, mit kaltem Schweiß bedeckt. »Was ist der Mensch?« stöhnte er leise, »was ist der Mensch?«
Zwölftes Kapitel
Doch kam er wieder hoch. Nach dem Anfall fühlte er sich besser, schmerzfrei seit langem. Er trank angewärmten Wein in kleinen, vorsichtigen Schlucken, sonst nahm er nichts zu sich. Er verzichtete jedoch nicht, den gewohnten Weg durch die Stadt und über die Bundesterrasse zu gehen, halb schlafend zwar, aber jeder Schritt in der reingefegten Luft tat ihm wohl. Lutz, dem er bald darauf im Bureau gegenübersaß, bemerkte nichts, war vielleicht auch zu sehr mit seinem schlechten Gewissen beschäftigt, um etwas bemerken zu können. Er hatte sich entschlossen, Bärlach über die Unterredung mit von Schwendi noch diesen Nachmittag zu orientieren, nicht erst gegen Abend, hatte sich dazu auch in eine kalte, sachliche Positur mit vorgereckter Brust geworfen, wie der General auf Traffelets Bild über ihm, den Alten in forschem Telegrammstil unterrichtend. Zu seiner maßlosen Überraschung hatte jedoch der Kommissär nichts dagegen einzuwenden, er war mit allem einverstanden, er meinte, es sei weitaus das beste, den Entscheid des Bundeshauses abzuwarten und die Nachforschungen hauptsächlich auf das Leben Schmieds zu konzentrieren. Lutz war dermaßen überrascht, daß er seine Haltung aufgab und ganz leutselig und gesprächig wurde.
»Natürlich habe ich mich über Gastmann orientiert«, sagte er, »und ich weiß genug von ihm, um überzeugt zu sein, daß er unmöglich als Mörder irgendwie in Betracht kommen kann.«
»Natürlich«, sagte der Alte.
Lutz, der über Mittag von Biel einige Informationen erhalten hatte, spielte den sicheren Mann: »Gebürtig aus Pockau in Sachsen, Sohn eines Großkaufmanns in Lederwaren, erst Argentinier, deren Gesandter in China er war – er muß in der Jugend nach Südamerika ausgewandert sein -, dann Franzose, meistens auf ausgedehnten Reisen. Er trägt das Kreuz der Ehrenlegion und ist durch Publikationen über biologische Fragen bekannt geworden. Bezeichnend für seinen Charakter ist die Tatsache, daß er es ablehnte, in die Französische Akademie aufgenommen zu werden. Das imponiert mir.«
»Ein interessanter Zug«, sagte Bärlach.
»Über seine zwei Diener werden noch Erkundigungen eingezogen. Sie haben französische Pässe, scheinen jedoch aus dem Emmental zu stammen. Er hat sich mit ihnen an der Beerdigung einen bösen Spaß geleistet.«
»Das scheint Gastmanns Art zu sein, Witze zu machen«, sagte der Alte.
»Er wird sich eben über seinen toten Hund ärgern. Vor allem ist der Fall Schmied für uns ärgerlich. Wir stehen in einem vollkommen falschen Licht da. Wir können von Glück reden, daß ich mit von Schwendi befreundet bin. Gastmann ist ein Weltmann und genießt das volle Vertrauen schweizerischer Unternehmer.«
»Dann wird er schon richtig sein«, meinte Bärlach.
»Seine Persönlichkeit steht über jedem Verdacht.«
»Entschieden«, nickte der Alte.
»Leider können wir das nicht mehr von Schmied sagen«, schloß Lutz und ließ sich mit dem Bundeshaus verbinden.
Doch wie er am Apparat wartete, sagte plötzlich der Kommissär, der sich schon zum Gehen gewandt hatte:
»Ich muß Sie um eine Woche Krankheitsurlaub bitten, Herr Doktor.«
»Es ist gut«, antwortete Lutz, die Hand vor die Muschel haltend, denn man meldete sich schon, »am Montag brauchen Sie nicht zu kommen!«
In Bärlachs Zimmer wartete Tschanz, der sich beim Eintreten des Alten erhob. Er gab sich ruhig, doch der Kommissär spürte, daß der Polizist nervös war.
»Fahren wir zu Gastmann«, sagte Tschanz, »es ist höchste Zeit.«
»Zum Schriftsteller«, antwortete der Alte und zog den Mantel an.
»Umwege, alles Umwege«, wetterte Tschanz, hinter Bärlach die Treppen hinuntergehend. Der Kommissär blieb im Ausgang stehen:
»Da steht ja Schmieds blauer Mercedes.«
Tschanz sagte, er habe ihn gekauft, auf Abzahlung, irgendwem müßte ja jetzt der Wagen gehören, und stieg ein. Bärlach setzte sich neben ihn, und Tschanz fuhr über den Bahnhofplatz gegen Bethlehem. Bärlach brummte:
»Du fährst ja wieder über Ins.«
»Ich liebe diese Strecke.«
Bärlach schaute in die reingewaschenen Felder hinein. Es war alles in helles, ruhiges Licht getaucht. Eine warme, sanfte Sonne hing am Himmel, senkte sich schon leicht gegen Abend. Die beiden schwiegen. Nur einmal, zwischen Kerzers und Müntschemier, fragte Tschanz:
»Frau Schönler sagte mir, Sie hätten aus Schmieds Zimmer eine Mappe mitgenommen.«
»Nichts Amtliches, Tschanz, nur Privatsache.«
Tschanz entgegnete nichts, frug auch nicht mehr, nur daß Bärlach auf den Geschwindigkeitsmesser klopfen mußte, der bei Hundertfünfundzwanzig zeigte.
»Nicht so schnell, Tschanz, nicht so schnell. Nicht daß ich Angst habe, aber mein Magen ist nicht in Ordnung. Ich bin ein alter Mann.«
Der Schriftsteller empfing sie in seinem Arbeitszimmer. Es war ein alter, niedriger Raum, der die beiden zwang, sich beim Eintritt durch die Türe wie unter ein Joch zu bücken. Draußen bellte noch der kleine, weiße Hund mit dem schwarzen Kopf, und irgendwo im Hause schrie ein Kind. Der Schriftsteller saß vorne beim gotischen Fenster, bekleidet mit einem Overall und einer braunen Lederjacke. Er drehte sich auf seinem Stuhl gegen die Eintretenden um, ohne den Schreibtisch zu verlassen, der dicht mit Papier besät war. Er erhob sich jedoch nicht, ja grüßte kaum, fragte nur, was die Polizei von ihm wolle. Er ist unhöflich, dachte Bärlach, er liebt die Polizisten nicht; Schriftsteller haben Polizisten nie geliebt. Der Alte beschloß, vorsichtig zu sein, auch Tschanz war von der ganzen Angelegenheit nicht angetan. Auf alle Fälle sich nicht beobachten lassen, sonst kommen wir noch in ein Buch, dachten sie ungefähr beide. Aber wie sie auf eine Handbewegung des Schriftstellers hin in weichen Lehnstühlen saßen, merkten sie überrascht, daß sie im Lichte des kleinen Fensters waren, während sie in diesem niedrigen, grünen Zimmer, zwischen den vielen Büchern das Gesicht des Schriftstellers kaum sahen, so heimtückisch war das Gegenlicht.