»Was mich an ihm fasziniert, ist nicht so sehr seine Kochkunst, obgleich ich mich nicht so leicht für etwas anderes mehr begeistere, sondern die Möglichkeit eines Menschen, der nun wirklich ein Nihilist ist«, sagte der Schriftsteller. »Es ist immer atemberaubend, einem Schlagwort in Wirklichkeit zu begegnen.«
»Es ist vor allem immer atemberaubend, einem Schriftsteller zuzuhören«, sagte der Kommissär trocken.
»Vielleicht hat Gastmann mehr Gutes getan als wir drei zusammen, die wir hier in diesem schiefen Zimmer sitzen«, fuhr der Schriftsteller fort. »Wenn ich ihn schlecht nenne, so darum, weil er das Gute ebenso aus einer Laune, aus einem Einfall tut wie das Schlechte, welches ich ihm zutraue. Er wird nie das Böse tun, um etwas zu erreichen, wie andere ihre Verbrechen begehen, um Geld zu besitzen, eine Frau zu erobern oder Macht zu gewinnen, er wird es tun, wenn es sinnlos ist, vielleicht, denn bei ihm sind immer zwei Dinge möglich, das Schlechte und das Gute, und der Zufall entscheidet.«
»Sie folgern dies, als wäre es Mathematik«, entgegnete der Alte.
»Es ist auch Mathematik«, antwortete der Schriftsteller. »Man könnte sein Gegenteil im Bösen konstruieren, wie man eine geometrische Figur als Spiegelbild einer andern konstruiert, und ich bin sicher, daß es auch einen solchen Menschen gibt – irgendwo -, vielleicht werden Sie auch diesem begegnen. Begegnet man einem, begegnet man dem andern.«
»Das klingt wie ein Programm«, sagte der Alte,
»Nun, es ist auch ein Programm, warum nicht«, sagte der Schriftsteller. »So denke ich mir als Gastmanns Spiegelbild einen Menschen, der ein Verbrecher wäre, weil das Böse seine Moral, seine Philosophie darstellt, das er ebenso fanatisch täte wie ein anderer aus Einsicht das Gute.«
Der Kommissär meinte, man solle nun doch lieber auf Gastmann zurückkommen, der liege ihm näher.
»Wie Sie wollen«, sagte der Schriftsteller, »kommen wir auf Gastmann zurück, Kommissär, zu diesem einen Pol des Bösen. Bei ihm ist das Böse nicht der Ausdruck einer Philosophie oder eines Triebes, sondern seiner Freiheit: der Freiheit des Nichts.«
»Für diese Freiheit gebe ich keinen Pfennig«, antwortete der Alte.
»Sie sollen auch keinen Pfennig dafür geben«, entgegnete der andere. »Aber man könnte sein Leben daran geben, diesen Mann und diese seine Freiheit zu studieren.«
»Sein Leben«, sagte der Alte.
Der Schriftsteller schwieg. Er schien nichts mehr sagen zu wollen.
»Ich habe es mit einem wirklichen Gastmann zu tun«, sagte der Alte endlich. »Mit einem Menschen, der bei Lamlingen auf der Ebene des Tessenberges wohnt und Gesellschaften gibt, die einen Polizeileutnant das Leben gekostet haben. Ich sollte wissen, ob das Bild, das Sie mir gezeigt haben, das Bild Gastmanns ist oder jenes Ihrer Träume.«
»Unserer Träume«, sagte der Schriftsteller.
Der Kommissär schwieg.
»Ich weiß es nicht«, schloß der Schriftsteller und kam auf die beiden zu, sich zu verabschieden, nur Bärlach die Hand reichend, nur ihm: »Ich habe mich um dergleichen nie gekümmert. Es ist schließlich Aufgabe der Polizei, diese Frage zu untersuchen.«
Die zwei Polizisten gingen wieder zu ihrem Wagen, vom weißen Hündchen verfolgt, das sie wütend anbellte, und Tschanz setzte sich ans Steuer.
Er sagte: »Dieser Schriftsteller gefällt mir nicht.« Bärlach ordnete den Mantel, bevor er einstieg. Das Hündchen war auf eine Rebmauer geklettert und bellte weiter.
»Nun zu Gastmann«, sagte Tschanz und ließ den Motor anspringen. Der Alte schüttelte den Kopf.
»Nach Bern.«
Sie fuhren gegen Ligerz hinunter, hinein in ein Land, das sich ihnen in einer ungeheuren Tiefe öffnete. Weit ausgebreitet lagen die Elemente da: Stein, Erde, Wasser. Sie selbst fuhren im Schatten, aber die Sonne, hinter den Tessenberg gesunken, beschien noch den See, die Insel, die Hügel, die Vorgebirge, die Gletscher am Horizont und die übereinandergetürmten Wolkenungetüme, dahinschwimmend in den blauen Meeren des Himmels. Unbeirrbar schaute der Alte in dieses sich unaufhörlich ändernde Wetter des Vorwinters. Immer dasselbe, dachte er, wie es sich auch ändert, immer dasselbe. Doch wie die Straße sich jäh wandte und der See, ein gewölbter Schild, senkrecht unter ihnen lag, hielt Tschanz an.
»Ich muß mit Ihnen reden, Kommissär«, sagte er aufgeregt.
»Was willst du?« fragte Bärlach, die Felsen hinabschauend.
»Wir müssen Gastmann aufsuchen, es gibt keinen anderen Weg weiterzukommen, das ist doch logisch. Vor allem müssen wir die Diener verhören.«
Bärlach lehnte sich zurück und saß da, ein ergrauter, soignierter Herr, den Jungen neben sich aus seinen kalten Augenschlitzen ruhig betrachtend:
»Mein Gott, wir können nicht immer tun, was logisch ist, Tschanz. Lutz will nicht, daß wir Gastmann besuchen. Das ist verständlich, denn er mußte den Fall dem Bundesanwalt übergeben. Warten wir dessen Verfügung ab. Wir haben es eben mit heiklen Ausländern zu tun.« Bärlachs nachlässige Art machte Tschanz wild.
»Das ist doch Unsinn«, schrie er, »Lutz sabotiert mit seiner politischen Rücksichtnahme die Untersuchung. Von Schwendi ist sein Freund und Gastmanns Anwalt, da kann man sich doch sein Teil denken.«
Bärlach verzog nicht einmal sein Gesicht: »Es ist gut, daß wir allein sind, Tschanz. Lutz hat vielleicht etwas voreilig, aber mit guten Gründen gehandelt. Das Geheimnis liegt bei Schmied und nicht bei Gastmann.«
Tschanz ließ sich nicht beirren: »Wir haben nichts anderes als die Wahrheit zu suchen«, rief er verzweifelt in die heranziehenden Wolkenberge hinein, »die Wahrheit und nur die Wahrheit, wer Schmieds Mörder ist!«
»Du hast recht«, wiederholte Bärlach, aber unpathetisch und kalt, »die Wahrheit, wer Schmieds Mörder ist.«
Der junge Polizist legte dem Alten die Hand auf die linke Schulter, schaute ihm ins undurchdringliche Antlitz:
»Deshalb haben wir mit allen Mitteln vorzugehen, und zwar gegen Gastmann. Eine Untersuchung muß lückenlos sein. Man kann nicht immer alles tun, was logisch ist, sagen Sie. Aber hier müssen wir es tun. Wir können Gastmann nicht überspringen.«
»Gastmann ist nicht der Mörder«, sagte Bärlach trocken.
»Die Möglichkeit besteht, daß Gastmann den Mord angeordnet hat. Wir müssen seine Diener vernehmen!« entgegnete Tschanz.
»Ich sehe nicht den geringsten Grund, der Gastmann hätte veranlassen können, Schmied zu ermorden«, sagte der Alte.
»Wir müssen den Täter dort suchen, wo die Tat einen Sinn hätte haben können, und dies geht nur den Bundesanwalt etwas an«, fuhr er fort.
»Auch der Schriftsteller hält Gastmann für den Mörder«, rief Tschanz aus.
»Auch du hältst ihn dafür?» fragte Bärlach lauernd.
»Auch ich, Kommissär.«
»Dann du allein«, stellte Bärlach fest. »Der Schriftsteller hält ihn nur zu jedem Verbrechen fähig, das ist ein Unterschied. Der Schriftsteller hat nichts über Gastmanns Taten ausgesagt, sondern nur über seine Potenz.
Nun verlor der andere die Geduld. Er packte den Alten bei den Schultern.
»Jahrelang bin ich im Schatten gestanden, Kommissär«, keuchte er. »Immer hat man mich übergangen, mißachtet, als letzten Dreck benutzt, als besseren Briefträger!«
»Das gebe ich zu, Tschanz«, sagte Bärlach, unbeweglich in das verzweifelte Gesicht des Jungen starrend, »jahrelang bist du im Schatten dessen gestanden, der nun ermordet worden ist.«
»Nur weil er bessere Schulen hatte! Nur weil er Lateinisch konnte.«
»Du tust ihm Unrecht«, antwortete Bärlach, »Schmied war der beste Kriminalist, den ich je gekannt habe.«