Das Gedränge auf dem Achterkastell war kaum weniger schlimm als unten an Deck. Die Männer standen dicht an dicht, sodass Robin sich fragte, was sie eigentlich tun wollten, sollten sie tatsächlich angegriffen werden. Der Platz schien ihr kaum ausreichend, um auch nur ein Schwert zu ziehen, geschweige denn zu kämpfen.
Irgendwie gelang es ihr, sich zu Abbé durchzudrängen, der neben Heinrich und Salim an der Reling stand und nach Süden blickte. Nicht, dass dort irgendetwas Außergewöhnliches zu sehen gewesen wäre. Genau genommen war überhaupt nichts zu sehen, außer der zerfaserten grauen Wand, die das Schiff von allen Seiten fest umschloss. So dicht war der Nebel, dass die Sankt Gabriel, obwohl sie kaum einen Steinwurf entfernt neben ihnen fuhr, bereits zu einem undeutlichen Schemen verwischt war.
Das graue Licht hatte die sichtbare Welt auf einen Umkreis von weniger als fünfzig Schritt schrumpfen lassen und alles mit klammer Nässe durchtränkt. Obwohl die Decks von Menschen überfüllt waren, herrschte beklommene Stille. Die Seefahrer hassten und fürchteten den Nebel aus gutem Grund. In ihrer gegenwärtigen Lage konnte er sich als tödlich erweisen. Die Segel hingen schlaff und schwer vor Feuchtigkeit von den Rahen. Beide Kreuzfahrerschiffe machten kaum noch Fahrt, was nichts anderes hieß, als dass sie auf unbestimmte Zeit hier festsaßen.
»Ist das... gut?«, fragte sie.
»Der Nebel? Ich wüsste nicht, wozu.« Abbé schüttelte den Kopf, riss sich vom Anblick der unheimlichen grauen Wand los und sah stirnrunzelnd auf sie herab - »Was tust du hier?«, fragte er. »Hat Salim dir nicht gesagt...«
»... dass ich im Bett bleiben und mir die Decke über die Nase ziehen soll, bis alles vorbei ist, ja«, fiel ihm Robin ins Wort. »Aber wenn wir wirklich angegriffen werden, dann bin ich dort unten auch nicht sicherer als hier.« Sie streckte herausfordernd die Hand in Salims Richtung aus. »Mein Schwert.«
»Verdammt, Robin, das hier ist kein Spiel!«, sagte Salim wütend. Er rührte keinen Finger, um ihr die Waffe auszuhändigen. Auch in Abbés Augen blitzte es wütend auf. Dann aber entspannte er sich plötzlich.
»Also gut, bleib in Gottes Namen hier«, seufzte er resignierend. »So können wir wenigstens auf dich Acht geben.«
»Gib Bruder Robin das Schwert, Salim.« Er wartete, bis Salim seinem Befehl nachgekommen war, und fügte mit finsterem Gesicht hinzu: »Aber sollte es zum Kampf kommen, dann verschwindest du sofort unter Deck, hast du mich verstanden?«
»Eure Sorge um Bruder Robin ehrt Euch, Abbé«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Aber bemerktet Ihr nicht erst gestern, dass er kein Kind mehr ist?«
Robin drehte sich herum und starrte in Dariusz’ Gesicht. Sie hatte nicht gemerkt, dass der grauhaarige Ritter hinter sie getreten war, was auf dem überfüllten Achterkastell aber nicht weiter verwunderlich war. Dariusz hatte seinen Helm mit dem Kinnriemen am Gürtel festgeschnallt. Dort steckte statt eines Schwertes ein dreikugeliger Morgenstern, was Robin zu einem flüchtigen Stirnrunzeln veranlasste. Sie verachtete diese Waffe, denn statt Schnelligkeit und Geschick zählte beim Umgang mit ihr vor allem brutale Kraft. Bei einer Auseinandersetzung in so drangvoller Enge, wie sie augenblicklich auf der Kogge herrschte, würde er vermutlich eher seine eigenen Brüder als sarazenische Angreifer verletzen.
»Ihr braucht Euch nicht um Euren Protege zu sorgen, Bruder Abbé«, fuhr Dariusz spöttisch fort. »Es wird nicht zu einem Kampf kommen, glaubt mir.«
»Weil sie sich vor Euch fürchten?«, spottete Salim.
»Weil der Nebel sie genauso blind macht wie uns«, antwortete Dariusz. Erstaunlicherweise ging er nicht auf Salims vorlaute Bemerkung ein, sondern lächelte sogar. »Und selbst wenn es nicht so wäre: Sobald dieses Heidenpack das Banner mit dem Ordenskreuz sieht, wird es den Schwanz einkneifen und abdrehen.« Er setzte eine Miene des Bedauerns auf und streichelte über die schweren Eisenkugeln des Morgensterns.
Salim verzichtete klugerweise auf eine Antwort auf diese Provokation, aber Abbé wiegte zweifelnd den Kopf. »Sie sind in der Überzahl«, gab er zu bedenken. »Und sie kennen sich in diesen Gewässern aus.«
»Ja, vermutlich werden sie uns einen Hinterhalt legen«, sagte Dariusz spöttisch. »Ich nehme an, sie werden sich hinter einem Wellenkamm auf die Lauer legen und warten, bis wir ahnungslos um die Ecke biegen.«
»Sie werden kommen, verlasst Euch darauf«, sagte Salim ernst. »Ich kenne diese Männer, Dariusz. Das sind keine Piraten, das wisst Ihr genauso gut wie ich. Das sind Kriegsschiffe, die uns folgen! Und die Männer darauf werden zu allem entschlossen sein. Sie glauben, wenn sie im Kampf gegen Euch sterben, werden sie direkt ins Himmelreich gelangen. Und dort warten auf jeden von ihnen hundert Jungfrauen. Davon abgesehen... In einem Punkt ähneln sie Euch sogar, Dariusz.«
»So?«, fragte Dariusz. Er lächelte noch immer, doch in seiner Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton. »In welchem?«
»Es gibt nicht viel, wovor sie sich fürchten«, antwortete Salim. »Sie sind irgendwo dort draußen im Nebel. Vermutlich näher, als wir ahnen. Sie wissen, dass wir hier sind und ihnen nicht entfliehen können. Sie werden kommen, verlasst Euch darauf.«
»Dann werden sie den Tod finden«, antwortete Dariusz. Er legte den Kopf auf die Seite und sah Salim durchdringend an. »Ich frage mich seit gestern, woher unsere Verfolger wissen konnten, dass sie uns hier finden würden. Zumal wir auch noch unseren Kurs geändert haben.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Salim. Seine Hand legte sich wie zufällig auf den Griff des Krummsäbels an seiner Seite.
»Nichts«, behauptete Dariusz. »Ich fand es nur von Anfang an etwas... befremdlich, einen Muselmanen in unserer Begleitung zu sehen. Und nun lauern uns Schiffe voller Muselmanen auf, obwohl sie doch eigentlich gar nicht wissen können, dass wir hier sind.«
Salims Hand schloss sich um den Schwertgriff, und Robin zuckte unwillkürlich zusammen als sie bemerkte, wie sich die Muskeln des Tuareg unter dem schwarzblauen Umhang spannten. Doch ehe aus der Auseinandersetzung tödlicher Ernst werden konnte, trat Abbé mit einem raschen Schritt zwischen die beiden Streithähne.
»Genug jetzt!«, sagte er scharf und er musste sich dazu zwingen, nicht zu schreien. »Salim, nimm die Hand vom Schwert, auf der Stelle! Und Ihr, Ritter Dariusz...« Er senkte die Stimme nicht, als er sich zu dem Templer herumdrehte, und seine Augen funkelten vor mühsam beherrschter Wut. »Überlegt Euch, was Ihr redet! Das ist nicht der Moment, haltlose Anschuldigungen vorzubringen!«
»Sind sie denn haltlos?«, fragte Dariusz ruhig.
»Genug, sage ich!« Diesmal schrie Abbé wirklich. »Wenn Ihr etwas vorzubringen habt, dann werdet Ihr reichlich Gelegenheit dazu bekommen, sobald das alles hier vorüber ist. Jetzt schweigt!«
»Oder redet wenigstens etwas leiser«, mischte sich Heinrich ein, wobei seine Worte wohl eher Abbé als Dariusz galten. »In diesem Nebel sieht man vielleicht nicht viel, aber man hört dafür umso besser. Euer Geschrei ist ja bis Damaskus zu vernehmen!«
»Und? Habt Ihr etwa Angst vor einem Häufchen Ungläubiger?« Dariusz klopfte auf den Griff des Morgensterns in seinem Gürtel und er entblödete sich nicht, dabei Salim herausfordernd anzusehen.
»Noch bestehen gute Aussichten, einem Kampf auszuweichen«, entgegnete Heinrich, ohne sich von der Drohgebärde beeindrucken zu lassen. »Solange der Nebel und damit die Flaute anhalten, sind uns die Sarazenen auf ihren Galeeren überlegen. Wenn wir aber Ruhe an Deck halten, mag es geschehen, dass sie weniger als einen halben Pfeilschuss weit an uns herankommen, ohne uns zu bemerken.«
Dariusz schüttelte empört den Kopf, und Robin begann allmählich an seinem Verstand zu zweifeln. Dass Dariusz nicht gerade zum intimen Freundeskreis Abbés zählte, war niemals ein Geheimnis gewesen, und sie hatte damit gerechnet, dass die seit Anfang ihrer Reise schwelende Feindschaft irgendwann einmal offen zutage treten würde. Aber Dariusz hatte sich den wohl unpassendsten aller nur denkbaren Augenblicke dafür ausgesucht.