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»Du kannst vielleicht wegsehen, aber vor der Verantwortung kannst du nicht davonlaufen«, sagte Harun.

Manchmal war es Robin, als ob dieser riesige alte Mann ihre Gedanken las. Die Vorstellung war natürlich albern, aber sie war dennoch sicher, dass Harun al Dhin auf eine geheimnisvolle Weise stets irgendwie zu wissen schien, was sie dachte oder fühlte. Erstaunlicherweise erschreckte sie diese Erkenntnis nicht wirklich.

»Ihr habt gelogen, nicht wahr?«, fragte sie.

»Gelogen?« Harun sah sie mit beinahe überzeugend gespielter Verwirrung an.

»Als Ihr behauptet habt, dass wir heute Abend eine Oase erreichen«, sagte Robin.

Harun hob die Schultern. Er wich ihrem Blick aus. »Was bedeutet schon Lüge? Ich könnte sagen, wir reiten mitten in einem Fluss, und es wäre die Wahrheit. Niemand kennt diese Wüste wirklich. Vielleicht liegt hinter der nächsten Biegung eine Wasserstelle, vielleicht sind es auch noch drei Tage bis zur nächsten Oase. Niemand weiß das.«

Und Omar offensichtlich auch nicht, dachte Robin müde. Sie hatte längst aufgehört, sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen, was der Sklavenhändler tatsächlich plante. Vielleicht nichts. Vielleicht hatte ihn auch die Angst vor Naidas »Schatten«, an die er angeblich nicht glaubte, in den Wahnsinn getrieben.

Die Assassinen - falls es sie denn überhaupt gab - hätten jedenfalls schon Flügel haben müssen, um sie noch einzuholen. Seit sie Hama verlassen hatten, war die Karawane fast ununterbrochen in Bewegung gewesen. In der ersten Nacht hatte Omar ganz darauf verzichtet, ein Lager aufzuschlagen und sie ausruhen zu lassen, und auch in der zurückliegenden hatten sie nach Robins Schätzung allenfalls vier oder fünf Stunden Schlaf gefunden. Nach ihrem Gefühl waren es allerdings eher vier oder fünf Minuten gewesen, und sie erinnerte sich schaudernd an die Kälte, die sich mit Zähnen aus Eis in ihre Knochen gegraben hatte. So unerträglich hoch die Temperaturen tagsüber in der Wüste stiegen, so grausam kalt wurde es des Nachts. Nein, sie wusste nicht, was Omar vorhatte - aber wenn er plante, Mensch und Tier, die sich seiner Obhut anvertraut hatten, zu Tode zu hetzen, so war er auf dem besten Wege, diesen Plan in die Tat umzusetzen.

Im letzten Moment spürte sie, dass ihre Gedanken schon wieder anfingen, auf eigenen Pfaden zu wandeln. Der nächste Schritt würde sein, dass sie einschlief und dann vielleicht tatsächlich vom Kamel fiel. Sie konnte nicht darauf bauen, dass Harun immer im passenden Moment da war, um sie zu retten. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, riss die Augen auf und sagte: »Nehmt Euer Wasser zurück. Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, aber...«

Sie sprach nicht weiter, als sie begriff, dass niemand mehr da war, der ihr zuhören konnte. Harun ritt mittlerweile wieder gut zwei Kamellängen vor ihr, - dabei hatte sie noch nicht einmal bemerkt, dass er die Position gewechselt hatte. Doch als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er sich wieder mit einer dieser fast unverschämt eleganten Bewegungen im Sattel herum und sah zu ihr zurück. Meinte er wirklich sie! Robin war sich nicht sicher. Genauso gut konnte sein Blick auch dem Ende der Karawane gelten oder irgendetwas, das dahinter lag.

Erst bei diesem Gedanken wurde ihr bewusst, dass Harun die Wüste in ihrem Rücken nie lange ohne Beobachtung ließ. Vielleicht war der unverhohlene Spott, mit dem er sich über Omars Furcht vor den Assassinen lustig machte, ja nichts anderes als ein Versuch, seine eigene Angst vor den unheimlichen Angreifern zu überspielen. Möglicherweise drehte er sich gar nicht zu ihr herum, sondern suchte den Horizont nach einer Staubfahne ab, die herannahende Verfolger verraten mochte.

Obwohl sie längst mit jeder noch so kleinen Bewegung zu geizen begonnen hatte, wandte sich auch Robin mühsam im Sattel um und fixierte den Horizont, der sich so wenig hinter ihnen entfernte, wie der vor ihnen näher kam. Aber da war nichts. Nur flirrende Luft, Hitze, Staub und ein unendlicher stahlblauer Himmel.

Während der letzten beiden Stunden war es einzig der Anblick der Festung gewesen, der Robin noch die Kraft gegeben hatte, sich im Sattel des Kamels zu halten. Sie war anfangs nicht sicher gewesen, ob sie tatsächlich da war oder sie nur wieder einer Täuschung erlag; nicht das erste Trugbild, das ihr ihre müden Augen und ihre völlig außer Kontrolle geratenen Nerven vorgaukelten. Sie hatte noch keine wirkliche Fata Morgana erlebt, jene vielleicht tödlichste aller Feindinnen, die jeden in die falsche Richtung locken konnte, der sich leichtsinnig und ohne entsprechende Vorbereitung in die Wüste hineinwagte. Aber sie hatte schon genug von ihr gehört, um zu wissen, dass die Täuschungen, mit denen sie es zu tun hatte, harmloser Natur waren.

Ihre überreizten und entzündeten Augen schmerzten von dem unbarmherzigen gleißenden Licht der Wüste, das sie nun schon drei Tage begleitete. Ihr Körper litt an Wassermangel, Erschöpfung und Fieber und sie wachte jede Nacht mehrmals von Schüttelfrost und Albträumen geplagt auf. Es bedurfte nicht viel, ihr in einer vom Wind aufgewirbelten Staubwolke einen Reiter vorzugaukeln. Bisweilen hielt sie auch eine durch eine Laune der Natur geformte Felsgruppe für die Silhouette eines Hauses oder einer ganzen Stadt oder ihre Ohren spielten ihr einen Streich, indem sie das Knirschen der Sandkörner, mit denen der Wind spielte, in das ferne Donnern von Pferdehufen verwandelten.

Der Mond war bereits aufgegangen und die Anteile von Grau in der Dämmerung überlagerten die Gold- und Rottöne, als die Karawane die letzte Sanddüne der Etappe dieses Tages überquerte und auf flacheres, scheinbar sich ins Unendliche erstreckende Wüstengebiet stieß. Und irgendwo auf halbem Wege zum Horizont stand die Festung.

Robin hatte sich im ersten Moment nicht erlaubt zu glauben, was sie sah. Sie hatte ihr Kamel einfach weitertraben lassen, ein paar Mal geblinzelt und sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen gewischt, doch diesmal verschwand das Bild nicht. Weit entfernt und fast schon mit dem farbenverzehrenden Grau der Dämmerung verschmolzen, erhoben sich die Türme einer gewaltigen Festung, die mitten in dieser unendlichen Wüste aufragte. Jetzt endlich wusste sie, was Omars und damit ihr aller Ziel war.

Robin konnte sich auch bei größter Anstrengung keinen Grund vorstellen, warum irgendjemand eine solch gewaltige Trutzburg hier mitten im Nichts errichten sollte. Aber sie war da und die Karawane hielt in gerader Linie darauf zu, selbst als die Nacht endgültig hereinbrach und die schwarzen Silhouetten der Türme und Zinnenmauern mit dem noch dunkleren Schwarz des Himmels verschmolzen. Im Nachhinein musste sie Omar Khalid Abbitte für vieles tun, was sie über ihn gedacht hatte.

Ihre Flucht war vielleicht gewagt und vermutlich entbehrungsreicher und gefährlicher, als Omar selbst geahnt haben mochte, aber das Ziel lohnte die Mühen. Selbst wenn die Assassinen verrückt genug sein sollten, ihnen immer noch zu folgen - in dieser Festung waren sie sicher. Sie lag weit genug draußen auf der Ebene, dass sich niemand ungesehen nähern konnte, und ihre Türme und Mauern waren hoch genug, dem Ansturm einer ganzen Armee Stand zu halten.

Und vor allem würde es dort Wasser geben, Essen und, wenn sie sehr viel Glück hatte, sogar einen Schlafplatz, der nicht nur aus einer auf dem nackten Boden ausgebreiteten Decke bestand. Der bloße Anblick der schemenhaft aufragenden Festungstürme erfüllte Robin mit neuer, ungeahnter Kraft.

Zwei Stunden waren seither vergangen, vielleicht auch mehr. Mittlerweile war die Nacht so kalt geworden, wie der vergangene Tag unerträglich heiß gewesen war, und ihre geheimen Kraftreserven waren längst aufgebraucht. Die Silhouette der Festung war in der Dunkelheit verschwunden und später wieder aufgetaucht - näher jetzt und nur noch als schwarzer Schattenriss, der sich kaum noch gegen den Nachthimmel abhob.