»Dessen man habhaft werden konnte«, erinnerte ihn Robin an seine eigene Formulierung.
Für einen Moment sah es so aus, als würde Mussa wütend werden. Wahrscheinlich war er es, denn er war es ganz gewiss nicht gewohnt, Widerworte von einer Frau, noch dazu von einer christlichen Sklavin, zu hören. Aber Omars Gegenwart hielt ihn wohl davon ab, das zu sagen oder zu tun, wonach ihm wirklich war. Er hob die Schultern.
»Möglich, dass es einige auserwählte Assassinen mit besonderen Fähigkeiten gibt«, räumte er ein. »Die meisten jedoch sind nichts Außergewöhnliches. Sollen sie nur kommen - ich habe vor einer Hand voll verrückter Selbstmörder keine Angst. Wir sind hier in einer Festung, und am Tag wieder in der Wüste. Das ist nicht die Welt, in der die Assassinen kämpfen. So tödlich ein Einzelner von ihnen sein mag, wenn er bereit ist, sein Leben zu opfern, um sein Ziel zu erreichen, so wenig kann er gegen eine ganze Karawane ausrichten. Und eine ganze Gruppe von ihnen noch viel weniger, denn sie sind Meuchelmörder und Attentäter, keine schlachtenerprobten Krieger wie meine Männer.«
Es lag Robin auf der Zunge zu fragen, warum Mussa dann nicht einfach gegen die Assassinen in den Krieg zog und sie auslöschte, um eine fürstliche Belohnung von Omar einzufordern. Aber der Blick des Sklavenhändlers, den sie auffing, machte ihr klar, dass sie schon viel zu weit gegangen war. Mussa stand in Omars Diensten und würde sich daher hüten, irgendetwas Unbedachtes zu tun. Aber er war auch ein unberechenbarer Mann, und es brachte nichts ein, ihn noch weiter zu reizen.
»Wenn es so ist, dann können wir uns in Eurer Obhut ja alle sicher fühlen«, sagte sie.
Die Worte waren Robin herausgerutscht. Sie merkte sofort, dass sie Mussa erzürnt hatte. In seinen Augen blitzte es auf, und sie sah, wie sich seine Gestalt versteifte.
»Das ist wahr«, sagte Omar fast hastig. Auch ihm war nicht entgangen, wie heftig der Söldnerführer auf Robins Worte reagiert hatte. Er erhob sich. »Würdest du ein paar Schritte mit mir gehen, Robin? Ich würde dir gern etwas zeigen.«
Robin war eigentlich viel zu müde, um aufzustehen, aber sie war auch froh, auf diese Weise aus Mussas Nähe zu entkommen. Der Mann wurde ihr mit jedem Augenblick unheimlicher. Darüber hinaus würde ihr Omar ja vielleicht doch das Ziel ihrer Reise nennen, wenn sie unter vier Augen waren. Vielleicht würde er sogar verraten, wen er als neuen Käufer für sie ins Auge gefasst hatte.
Sie nickte. Als sie umständlich aufstand, streckte Mussa den Arm aus, um ihr zu helfen, aber sie beachtete ihn nicht. Mussas Gesicht verdüsterte sich noch mehr, er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und verschwand mit raschen Schritten in der Nacht. Omar sah ihm kopfschüttelnd nach, sparte sich aber zu Robins Erleichterung jede Bemerkung.
Der Sklavenhändler fischte einen brennenden Ast aus dem Feuer und wies mit einer einladenden Geste in die Nacht hinein. Sie setzte sich gehorsam in Bewegung. Auch Omars Leibwächter wollte ihnen folgen, aber der Sklavenhändler schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich brauche dich jetzt nicht, Faruk«, sagte er. »Wirf ein Auge auf Mussa. Ich traue ihm nicht.«
Robin war jetzt wirklich erstaunt. Omar war zurzeit nie ohne seinen Schatten zu sehen. Hatte sie Grund, beunruhigt zu sein?
Er führte sie quer durchs Lager und an den zum Großteil bereits schlafenden Kriegern vorbei. Robin fiel auf, dass seine und Mussas Männer sich nicht gemischt hatten. Die Krieger des Sklavenhändlers bildeten in der Mitte des weitläufigen Hofes eine kleine Gruppe, die ihrerseits von der deutlich größeren Anzahl Söldner eingekreist war. Das Bild war nicht ganz eindeutig. Robin hätte in diesem Moment nicht zu sagen vermocht, wer nun wen beschützte und wer wessen Herr oder Gefangener war.
Omar zumindest schien das im Moment auch nicht zu interessieren. Das brennende Holz wie eine Fackel erhoben, sodass ihnen ein stetiger Schauer winziger roter Funken folgte, führte er sie zu einem verfallenen Gebäude, das nur noch aus wenigen Wänden und Torbögen bestand, die auf spiralförmig gedrehten Säulen ruhten. Es gab keine Decke mehr, sondern nur den Nachthimmel, der mit Tausenden winziger, leuchtender Diamanten übersät zu sein schien. Es war kalt.
Nachdem sie das Gebäude betreten hatten, blieb Omar stehen, drehte sich zu ihr herum. Er sah sie auf eine Art an, die Robin erschauern ließ. Sie fragte sich, ob sie Grund hatte, sich Sorgen zu machen. Trotz allem hatte sich Omar ihr gegenüber bisher als ein Mann von Ehre erwiesen, aber wie er gerade selbst gesagt hatte: Sie waren weit weg von allem, irgendwo im Nichts, an einem Ort, der vielleicht nicht einmal von Gott bewohnt war. Sie gab sich Mühe, sich nichts von ihren Gefühlen anmerken zu lassen. Aber ganz schien es ihr nicht zu gelingen, denn plötzlich trat ein verzeihendes Lächeln auf Omars Lippen, als erahnte er ihre Gedanken.
Und nicht zum ersten Mal registrierte Robin voller Schrecken, dass unter all dem Hass und all der Verachtung, die sie für diesen Mann empfand, noch etwas anderes war. Ein Gefühl, das sie am liebsten verbannt hätte, das jedoch vom allerersten Moment vorhanden gewesen war und langsam wuchs, ob sie es nun wollte oder nicht.
»Warum... habt Ihr mich hierher geführt, Herr?«, fragte sie stockend.
»Ich wollte dir das hier zeigen.« Omar hob seine Fackel und drehte sich langsam einmal im Kreis, sodass der flackernde rote Lichtschein auf die kunstvollen Reliefs und Bildhauerarbeiten fiel, mit denen die Wände geschmückt waren. Anders als draußen am Tor waren die Gesichter der abgebildeten Gestalten nicht gewaltsam zerschlagen worden. Die einzige Zerstörung, die sie sah, hatte die Zeit angerichtet.
»Ist das nicht wunderbar?«, fragte Omar.
Im ersten Moment überraschte Robin diese Frage. Wenn sie irgendetwas von Omar nicht erwartet hätte, dann wäre es Sinn für Schönheit oder Kunst. Doch nachdem sie neben ihn trat und die in die Wände gemeißelten Bilder etwas genauer betrachtete, musste sie ihm Recht geben. Trotz der Spuren, die die Jahrhunderte unübersehbar hinterlassen hatten, blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass sie selten Arbeiten von größerer Kunstfertigkeit gesehen hatte.
»Das hier sind die Ruinen von Qasr al-Hir al-Gharbi«, sagte Omar mit veränderter, sonderbar ehrfürchtig klingender Stimme. »Heute sieht man es ihnen vielleicht nicht mehr an, aber einst war das hier ein prächtiger Palast. Er ist uralt und wurde von einem der ersten Kalifen errichtet, Hisham. Einem Herrscher aus dem Geschlecht der Omayyaden. Es heißt, sie hätten sich noch darauf verstanden, die Dschinn der Wüste und andere Geister zu rufen.«
Robin wurde immer verwirrter. Worauf wollte Omar hinaus? Hatte er sie mitten in der Nacht hierher geführt, um ihr Geschichtsunterricht zu erteilen?
»Komm!« Omar wedelte aufgeregt mit der Hand und führte sie zu einer Mauer, auf der man die leuchtenden Farben eines uralten Freskos erkennen konnte. Das Bild zeigte einen Mann mit einem spitzen Bart und einem Turban, bekleidet mit einem mit Gold und Perlen bestickten Kaftan und den üblichen, Robin immer noch etwas albern anmutenden Schuhen mit nach oben gebogenen Spitzen. Die Gestalt kniete vor einer Frau nieder, die ein schlichteres, dunkles Gewand und ein Kopftuch trug. Sie war unverschleiert, was sehr ungewöhnlich war, und ihr Gesicht war fein geschnitten, mit vollen Lippen und großen, dunklen Augen. Sie war eindeutig keine Araberin.
»Wer ist das?«, hörte sich Robin fast gegen ihren Willen fragen.
»Einst«, begann Omar, während er langsam seine Fackel schwenkte, sodass Licht und Schatten über das Fresko huschten und die uralten Bilder und Linien zu Leben zu erwecken schienen, »reichte die Macht des Kalifen Hisham von den Bergen, die die Welt tragen, bis zu den christlichen Königreichen, die weit im Westen hinter der Meerenge liegen. Er war mächtiger als jeder andere seiner Zeit. Der Segen des Propheten lag auf seiner Sippe. Selbst die Fürsten der Geister neigten ihr Haupt vor Hisham dem Gewaltigen. Es gab niemanden auf der Welt, dem er nicht befehlen, und nichts, was er nicht besitzen konnte. Gern ging er mit seinen Freunden auf ausgedehnte Jagdausflüge, und einmal, als sie einem Löwen nachstellten, der in die Wüste geflohen war, stießen sie auf ein Lager wandernder Beduinen. Ein armseliges Zeltlager, zu dem nur eine kleine Herde gehörte. Und doch fand Hisham hier den größten Schatz, dem er je begegnete.«