Im Licht der Fackel konnte Robin kleine, blutrote Rosenblüten an dem Busch erkennen und unter den dornigen Zweigen, von der Zeit gezeichnet und verwittert, ein geborstenes Marmorbecken. Aus winzigen Rissen im Fels, die teils natürlichen Ursprunges, teils künstlich erweitert worden waren, tropfte Wasser; ein unglaublicher Schatz in dieser Einöde aus Hitze, Wüstensand und Trockenheit.
»Aber du hast gesagt, hier gäbe es kein Wasser«, murmelte Robin.
Omar lächelte wissend. »Man kann dieses Wasser nicht trinken«, sagte er. »Außerdem weiß niemand davon. Niemand außer mir - und jetzt dir. Bewahre dieses Geheimnis für dich, wenn du nicht willst, dass dieser Ort seinen Zauber verliert.«
Robin begriff, was er meinte. Diese winzige Quelle stellte vielleicht den größten Schatz dar, den es in diesem Teil der Welt geben mochte. Aber sie sah nur Spuren von Feuchtigkeit auf dem Stein, hier ein flüchtiges Glitzern, dort einen einsamen Tropfen, der sich mühsam seinen Weg nach unten suchte - vermutlich lieferte die Quelle nicht einmal genug Wasser, um einen einzigen Menschen am Leben zu erhalten. Sie war wertlos für eine Karawane und doch würde das Wissen um ihre Existenz den Untergang dieses Ortes bedeuten.
»Das hier ist die Stelle, an der Melikae gestorben ist«, sagte Omar. Er hob die Fackel noch ein wenig höher, sodass das Licht sich auf dem Wasser im Inneren des Marmorbeckens brach. Es schimmerte dunkelrot.
»Von der Stunde ihres Todes an ist das Wasser, das aus dem Felsen tropft, so rot wie Blut geworden«, fuhr Omar fort. »Der Garten ist verdorrt, nur dieser eine Busch ist stehen geblieben. Aber auch seine Blüten vergehen binnen einer Stunde, wenn du sie pflückst.«
Tatsächlich war die Innenseite des einst weißen Marmors blutig rot verfärbt und an seinem Grund hatte sich rotes, schlammiges Wasser abgesetzt. Robin konnte einen eisigen Schauer nicht unterdrücken, der nichts mit der Nachtkälte und dem Wind zu tun hatte. Eine schwache Stimme in ihr versuchte ihr klar zu machen, dass es eine natürliche Erklärung für dieses Phänomen geben könnte, aber sie hörte nicht hin. In diesem Moment hatten Logik und Vernunft keinerlei Gewicht, war das Becken mit dem so unheimlich verfärbten Wasser für sie der Beweis, dass Omar die Wahrheit gesprochen hatte.
Beklommen stellte sie sich vor, dass Melikae vielleicht genau an der Stelle gestorben war, an der sie jetzt gerade stand. Vor ihrem geistigen Auge entstanden die prachtvollen Gärten, die es hier einst gegeben haben musste. Das Wispern des Windes wurde endgültig zum Lachen spielender Kinder in der Ferne, der matte Schein der Lagerfeuer hinter ihr zum prachtvollen Glanz der Feste, die hier gefeiert worden waren - und dann wurde auch Omar zu Hisham, dem Mann, der alle Schätze der Welt aufgegeben hatte, um einen noch größeren zu erlangen.
»Warum hast du mir diese Geschichte erzählt?«, fragte sie traurig.
»Weißt du das denn wirklich nicht?«
Natürlich wusste sie es. Gegen ihren Willen sah sie Omar plötzlich mit anderen Augen. »Und du...« Sie verbesserte sich. »Ihr... würdet wirklich alles für mich tun?«, fragte sie.
Omar nickte. »Ich schwöre, dir keinen Wunsch abzuschlagen. Ganz egal, was es ist.«
In seiner Stimme war mit einem Male ein Unterton von Trauer und Bitterkeit, den sie im ersten Moment nicht verstand. Erst als sie sich selbst ihre Bitte äußern hörte, wurde ihr klar, dass er ganz genau diese Worte erwartet hatte. »Dann wünsche ich mir, frei zu sein und gehen zu dürfen, wohin ich will.«
Omar schwieg. Der Wind frischte auf und eine einzelne starke Böe ließ die Fackel in seiner Hand so stark flackern, dass sie zu erlöschen drohte. Das zuckende rote Licht ließ den Schmerz auf seinem Gesicht jäh hervortreten. Nach einem langen, endlos währenden inneren Kampf, so leise, dass sie seine Worte mehr erahnte als wirklich verstand, und ohne sie anzusehen, sagte er schließlich: »Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen, selbst wenn ich mein eigenes Unglück damit besiegele.«
»Ihr meint, ich... ich bin frei?«, fragte Robin ungläubig.
»Ja«, stieß Omar hervor. Er kämpfte sichtlich um seine Fassung. »Aber noch nicht sofort. Es wäre dein sicherer Tod, wenn ich dich jetzt ziehen ließe. Doch sobald wir in Palmyra angekommen sind, werde ich dich mit allem ausstatten, damit du so Weiterreisen kannst, wie es einer Prinzessin geziemt, und wohin immer du willst. Ich... werde dich von einer Eskorte begleiten lassen, die dich in eine christliche Stadt geleitet.«
Robin war sprachlos. Seine Worte hatten sie getroffen wie ein Schlag. Nach allem, was ihr in den letzten Tagen und Wochen widerfahren war, war das das Letzte, womit sie gerechnet hätte. Und doch spürte sie, dass Omar Khalid sein Angebot nicht vorgebracht hatte, um sie zu quälen und sich hinterher an ihrer um so tieferen Enttäuschung zu weiden.
Es war sein voller Ernst, so schmerzhaft für ihn diese Entscheidung auch war. Plötzlich wurde ihr klar, was sie bedeutete: Er schenkte nicht nur einfach einer Sklavin die Freiheit, er besiegelte auch sein eigenes Schicksal. Omar Khalid setzte damit endgültig alles aufs Spiel, was er jemals erreicht und jemals besessen hatte. Von einem wohlhabenden, einflussreichen und gefürchteten Mann war er bereits zu einem Flüchtling geworden, der sich mit Söldnern und Wegelagerern abgab, vom Herrn über Hunderte von Sklaven zu dem über eine Karawane, die sich auf einer verzweifelten Flucht vor einem Feind befand, vor dem man nicht fliehen konnte. Er hatte all das weggegeben, um das Herz einer Frau zu gewinnen, die er sich einfach hätte nehmen können. Und nun, wo er am Ende war, verlor er auch noch das, um dessentwillen er dieses Opfer gebracht hatte. Sie versuchte sich bewusst an all das Schreckliche zu erinnern, das er getan hatte, all das Leid, das von ihm ausgegangen war, all den Hass und die Wut, die sie ihm entgegengebracht hatte. Nichts davon wurde durch das ungeschehen gemacht, was sie gerade gehört hatte, und trotzdem war alles, was sie in diesem Moment für diesen großen, gebrochenen Mann empfand, Mitleid.
18. KAPITEL
Saila weckte sie mit dem ersten Licht des neuen Morgens. Robin war gleichzeitig kalt und heiß. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um über den Mauern der verfallenen Festung sichtbar zu sein, aber es lag bereits ein Hauch trockener Hitze über dem Land. Ihr Gesicht fühlte sich schon wieder warm an und ihre Lippen waren so spröde und rissig wie zuvor. Dennoch war die grausame Kälte durch Robins dünne Decke und ihre Kleider gekrochen und hatte sich so tief in ihre Knochen eingenistet, dass sie zitternd die Arme um den Körper schlang und sich die Decke wie einen zweiten Mantel über die Schultern legte, als sie sich aufrichtete.
Rings um sie herum erklangen die vertrauten Geräusche des Lagers, und Robin sah sich blinzelnd um, versuchte die letzte Benommenheit des Schlafs abzuschütteln. Die meisten Männer waren bereits damit beschäftigt, die Kamele zu beladen, die letzten Feuer zu löschen und, so gut es ging, die Spuren ihrer Anwesenheit zu tilgen. Sie ließ ihren Blick weiterwandern, entdeckte Harun, der nicht weit entfernt mit dem Rücken gegen einen Mauerrest gelehnt dasaß und immer noch schnarchte; sie lächelte flüchtig und sah sich weiter um. Erst nach einigen weiteren Augenblicken wurde ihr klar, dass sie nach Omar suchte.
Die Erkenntnis erschreckte sie, sodass sie hastig den Kopf senkte. Neben ihr, in dem feinkörnigen roten Sand, der auch das Innere des Burghofes wie eine fingerdicke Schicht bedeckte, lag eine blutrote Rose.
»Allah!«, keuchte Saila.
Robin sah verwirrt auf und erblickte nackten Schrecken im Gesicht der Araberin, die abwechselnd sie und die Rose anstarrte.
»Was hast du?«, fragte sie.
Sie wollte die Hand nach der Rose ausstrecken, aber Saila griff rasch nach ihrem Arm und zog ihn energisch zurück. Überrascht von ihrer eigenen Geste, rutschte sie auf den Knien ein kleines Stück von Robin fort, ohne den angstvollen Blick von der Blume zu wenden. Robin wagte es nicht, ein zweites Mal danach zu greifen. »Was soll das?«, fragte sie.