Fast ohne ihr Zutun griff Robins Hand unter ihr Kleid und zog die Rosenblüte hervor.
Sie erstarrte.
Die Rose war verwelkt. Der Stiel hatte sich braun verfärbt und war schrumpelig geworden, und die Blätter, am Morgen noch blutrot und von leuchtender Farbe, waren so ausgetrocknet und mürbe, dass sie unter ihren Fingern zerbrachen wie ganz feines Glas. Aber das war doch unmöglich! Selbst in dieser glühenden Wüste konnte eine Blume nicht so schnell vertrocknen und zu Staub zerfallen!
Sie erinnerte sich wieder an Sailas Worte vom Morgen und schauderte. Sie weigerte sich immer noch, an die Dschinn, an Flüche und Geister zu glauben, aber die verwelkte Rosenblüte in ihrer Hand sprach eine ganze andere Sprache.
»Was hast du da?« Robin fuhr erschrocken zusammen, als sie Haruns Stimme hörte, und schloss instinktiv die Hand um die Rose. Es knisterte, als sie zwischen ihren Fingern endgültig zu Staub zerfiel.
»Nichts«, sagte sie.
»Wenn es nichts ist, warum verbirgst du es dann in deiner Hand?«, fragte Harun al Dhin lächelnd.
Verwirrt und ein bisschen schuldbewusst öffnete Robin die zur Faust geschlossene Rechte. Nur ein wenig rötlichbrauner Staub rieselte in den Sand hinab und schien von ihm aufgesogen zu werden. Harun runzelte die Stirn und ließ sich wortlos und mit untergeschlagenen Beinen unmittelbar neben Robin zu Boden sinken.
»Ich beginne allmählich an Omars Verstand zu zweifeln«, sagte er. »Dieser Wahnsinnige führt uns immer tiefer in die Wüste hinein.«
»Vielleicht ist er nicht ganz so wahnsinnig, wie Ihr glaubt«, murmelte Robin. Eine innere Stimme mahnte sie, nicht weiterzusprechen. Omar hatte ihr ein Geheimnis anvertraut, und auch wenn er vermutlich niemals erfahren würde, dass sie es Harun al Dhin gegenüber preisgab, so käme sie sich trotzdem wie eine Verräterin vor. Aber es war bereits zu spät.
»Wie meinst du das?«, fragte Harun.
Robin druckste einen Moment herum. Sie wollte Omar nicht verraten, aber sie hatte auch das Gefühl, Harun al Dhin eine Antwort schuldig zu sein. »Er hat gesagt, dass die Assassinen uns nicht hierher folgen können«, antwortete sie ausweichend - was voll und ganz der Wahrheit entsprach, ohne Omars Geheimnis vollends zu offenbaren.
»So?«, sagte Harun. »Hat er das?«
»Ihre Pferde können nicht so tief in die Wüste vordringen.«
»Das stimmt«, erwiderte Harun. Nach einer winzigen Pause und in leicht verändertem Ton fügte er hinzu: »Jedenfalls nicht, wenn sie auch noch den Rückweg schaffen wollen.«
Seine Worte beunruhigten Robin. »Ihr meint, dass sie...«
»Ich weiß nicht viel über Assassinen«, unterbrach sie Harun. »Aber so viel schon: Wenn sie von ihrem Herrn einen Befehl erhalten, dann führen sie ihn aus, und wenn es ihr Leben kostet. Sie würden nicht zögern, uns auch hierher zu folgen, selbst wenn sie ganz genau wüssten, dass sie nicht mehr zurückkehren könnten.« Er schwieg einen Moment, als er jedoch bemerkte, wie sehr Robin diese Worte erschreckt hatten, zauberte er ein beruhigendes Lächeln auf seine Züge. »Hab keine Angst. Ich glaube nicht, dass sie das tun. Nach allem, was ich über Sheik Sinan gehört habe, ist er ein harter Mann, aber kein Dummkopf. Er würde kaum das Leben eines Dutzends Männer opfern, nur um eines kleinen Diebes und Betrügers habhaft zu werden, den er früher oder später sowieso ergreift.«
»Wieso?«
Harun hob die Schultern. »Omar kann nicht immer in dieser Wüste bleiben, oder? Irgendwann, in irgendeiner Stadt, wird er wieder auftauchen. Und dort werden ihn die Assassinen erwarten.«
Das sollte Robin zweifellos beruhigen, aber die Worte bewirkten eher das Gegenteil. Auch Omar war kein Dummkopf. Er musste wissen, dass er den Assassinen auf Dauer nicht entkommen konnte. Umso größer war das Opfer, das er zu bringen bereit war, und umso schlechter fühlte sich Robin. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie hatte Angst vor diesen unergründlichen Gefühlen für einen Mann, für den sie nichts als Hass und Verachtung empfinden sollte. Sie musste mit irgendjemandem darüber sprechen.
Gerade, als sie dazu ansetzte, sich Harun zu offenbaren, entstand an der Spitze der Karawane Unruhe. Harun sah alarmiert hoch, und auch Robin blickte konzentriert in die gleiche Richtung. Einige Männer waren aufgesprungen, liefen durcheinander oder gestikulierten mit den Armen. »Khamsin! Khamsin!«
»Khamsin? Was bedeutet das?«, fragte Robin. Sie hatte dieses Wort noch nie gehört.
Harun al Dhin offenbar schon, denn er wirkte plötzlich angespannt, alarmiert. »Wind«, murmelte er.
»Wind?«
Harun schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Nicht irgendein Wind«, antwortete er. »Es ist ein heißer Wüstenwind, der manchmal tagelang weht und schon so mancher Karawane zum Verhängnis geworden ist.« Er hob den Arm und deutete auf den Himmel im Süden. Der Horizont hatte sich graubraun verfärbt. »Er kommt.«
Omar kam von der Spitze der Karawane herangeritten. »Alles auf die Kamele!«, befahl er. »Schnell! Wir müssen den Felskamm erreichen. Wenn uns der Sturm hier überrascht, sind wir verloren.«
Robin sah nicht einmal einen Felsen. In der Richtung, in die Omars ausgestreckter Arm deutete, erkannte sie nur weitere endlose Sanddünen sowie einen lang gezogenen, dünnen Strich. Dennoch beeilte sie sich, auf ihr Kamel zu klettern und das Tier unsanft zum Aufstehen zu bewegen. Niemand sprach jetzt mehr davon, die Kräfte der Kamele zu schonen. Die Männer schrien weiter dieses unheimliche Wort Khamsin!, und die Angst, die dabei in ihren Stimmen mitschwang, war unüberhörbar.
Auch Harun war auf sein Kamel gesprungen, machte aber noch keine Anstalten loszureiten, sondern winkte ihr ungeduldig zu. »Bleib immer bei mir. Ganz egal, was passiert, weiche nicht von meiner Seite!«
Robin nickte, zugleich aber sagte sie: »Ich muss mich um Nemeth kümmern.«
Harun verdrehte die Augen. »O Allah, ich werde nie wieder behaupten, dass ein Kamel stur ist, oder ein Esel. Nicht, seit ich dich kennen gelernt habe. Aber um des Propheten willen - dann passe ich eben auf euch beide auf. Und jetzt los. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren!«
Und damit hatte er kein bisschen übertrieben. Sie ritten los. Omar, der wieder an der Spitze der Karawane ritt und das Tempo vorgab, sprengte in einer Geschwindigkeit dahin, die einem Rennpferd alle Ehre gemacht hätte, und die meisten anderen Kamele hielten ohne Probleme mit ihm Schritt.
Auch die Tiere waren erschöpft und durstig, aber sie schienen die Gefahr, die aus dem Süden auf sie zukam, ebenso deutlich zu spüren wie ihre Reiter. Zwei oder drei Lastkamele und einer von Mussas Kriegern fielen nach und nach zurück, doch niemand machte auch nur den Versuch, ihm zu helfen oder gar auf sie zu warten. Einmal drehte sich Robin um, um nach ihnen Ausschau zu halten. Als sie sie entdeckte, winzige Punkte, waren sie sicherlich schon eine Meile entfernt, und dicht hinter ihnen tobte eine braun-graue, unheimliche Masse heran. Es sah weniger wie ein Sturm aus, eher als hätte sich die Wüste erhoben und wäre nun zu einer Wand geworden, die mit täuschender Langsamkeit auf sie zukam. Langsam, aber unaufhaltsam.
Dennoch fasste sie neue Hoffnung, als sie wieder nach vorn sah und den Horizont mit Blicken abtastete. Sie konnte den Felsenkamm, von dem Omar Khalid gesprochen hatte, nun ebenfalls sehen. Entsetzlich weit noch entfernt, bestimmt vier oder fünf Meilen, wenn nicht mehr, und eingebettet in die endlosen roten Wogen der Wüste, wirkte er klein und selbstverloren: nicht wie etwas, das ihnen Schutz bieten konnte, sondern etwas, das selber Schutz brauchte. Dennoch erschien er ihr wie ein letzter Hoffnungsschimmer. Sie versuchte, ihr Kamel noch mehr anzutreiben, aber das Tier warf nur unwillig den Kopf in den Nacken und gab ein lang gezogenes Blöken von sich. Seine hässlichen Beine arbeiteten in rasendem Takt, und Robin musste sich mit aller Kraft am Sattelknauf festhalten, um nicht abgeworfen zu werden, was vermutlich ihren sicheren Tod bedeutet hätte.