Unmittelbar neben ihr sank einer von Mussas Söldnern, von einem Pfeil am Hals getroffen, aus dem Sattel, und im buchstäblich allerletzten Augenblick bemerkte auch der Assassine, auf den sie es abgesehen hatte, die neue Gefahr. Er riss sein Pferd mit einem brutalen Ruck herum und hob gleichzeitig seinen Speer. Robin duckte sich blitzschnell unter der Waffe weg, doch nicht schnell genug. Der Stahl ritzte ihren linken Arm. Der Schmerz fühlte sich unwirklich an, und sie spürte, wie warmes Blut an ihrem Oberarm herunterlief.
Dann prallten beide Tiere aufeinander. Das Pferd wurde zur Seite geschleudert und begrub seinen Reiter unter sich, aber auch Robins Kamel geriet ins Straucheln und stürzte. Ehe Robin mit zu Boden gerissen wurde, stieß sie sich mit aller Kraft aus dem Sattel, landete zusammengekrümmt im weichen Wüstensand und schnellte, indem sie den Schwung ihres Sprungs nutzte, wieder in den Stand. Ohne innezuhalten stürmte sie auf den gestürzten Reiter zu; schließlich hatte Salim sie gelehrt, mit leeren Händen zu kämpfen. Sie glaubte zwar nicht, dass sie einem gut ausgebildeten und trainierten Krieger, wie es die Assassinen zweifellos waren, gewachsen sein würde, aber was sie dachte und was sie tat, das waren plötzlich zweierlei Dinge.
Zunächst schien ihr das Schicksal auch gewogen zu sein. Das verletzte Pferd hatte sich aufgerappelt und humpelte davon, aber der Reiter lag reglos und mit verdrehten Gliedern im Sand. Er war ohnmächtig oder tot. Robin bückte sich nach seinem Speer, hob ihn auf und ging dann ein zweites Mal in die Knie, um den Krummsäbel des Assassinen an sich zu nehmen. Rings um sie herum tobte die Schlacht bereits mit aller Gewalt. Sie sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln, duckte sich und spürte den Luftzug, mit dem das Schwert über sie hinwegzischte. Ohne nachzudenken, stieß sie dem Angreifer das stumpfe Ende des Speeres in den Unterleib, machte einen halben Schritt zur Seite, um ein weiteres Mal, jetzt mit dem Speerschaft, zuzuschlagen. Erst als der Angreifer bewusstlos zu Boden ging, stellte sie fest, dass es kein Assassine gewesen war, sondern einer von Mussas Söldnern.
Doch ihr blieb keine Zeit, Bedauern zu empfinden. Immer mehr und mehr Assassinen schienen wie aus dem Nichts ringsumher aufzutauchen. Die Verteidiger, mittlerweile hoffnungslos in der Unterzahl und auch in keinem wesentlich besseren Zustand als die Angreifer, hatten keine Chance. Binnen weniger Augenblicke war die Hälfte der Söldner und nahezu Omars gesamte Wachtruppe ausgeschaltet. Dasselbe Schicksal würde auch ihr widerfahren: Gleich drei der vollkommen in Schwarz gekleideten Angreifer stürmten auf sie zu.
Robin schleuderte dem Ersten ihren Speer entgegen - er ging fehl, als der Mann einen blitzschnellen Ausfallschritt nach links machte -, bückte sich wieder nach dem bewusstlosen Reiter und versuchte, seinen Schild aufzuheben. Aber diesmal war sie zu langsam. Gerade als sie die Hand durch die Schlaufe steckte und sich wieder aufrichten wollte, war einer der Assassinen heran und versetzte ihr einen harten Tritt gegen die Schulter.
Robin schrie vor Schmerz auf, fiel rücklings in den Sand und ließ das Schwert los. Der Assassine war über ihr - und dann verschwunden. Statt ihr seinen Speer in die Brust zu stoßen, was er ohne weiteres gekonnt hätte, rannte er einfach weiter, um sich einen anderen Feind zu suchen. Und auch die beiden anderen schienen jegliches Interesse an ihr verloren zu haben.
Zwei hämmernde Herzschläge lang blieb Robin verwirrt auf dem Rücken liegen und fragte sich, wieso sie überhaupt noch lebte - und dann hörte sie das schrille, entsetzte Schreien eines Kindes!
Blitzschnell war sie auf den Füßen, wirbelte herum und schrie vor Entsetzen auf.
Der Kampf war fast zu Ende. Überall lagen Männer im Sand, die von Pfeilen niedergestreckt oder von Schwerthieben getötet worden waren, und nur die wenigsten von ihnen trugen das matte Schwarz der Assassinen. Nur ganz dicht an der Felswand hatte sich noch eine kleine Gruppe Verteidiger zusammengeschart - und mitten unter ihnen entdeckte sie Mussa, der Nemeth ergriffen hatte und sie als lebenden Schild vor sich hielt.
Der Beduine schrie irgendetwas, das sie nicht verstand. Sein Dolch lag auf der Kehle des Kindes und für einen kurzen, entsetzlichen Augenblick glaubte Robin erneut zu fühlen, wie kalter Stahl durch ihre eigene Kehle schnitt. Die Zeit schien plötzlich langsamer zu vergehen, ihre Glieder wurden von unsichtbaren Fesseln gehalten, während ihre Gedanken immer schneller und umso hilfloser rasten. Verzweifelt rannte sie los - und wusste zugleich, dass sie keine Chance hatte, Mussa rechtzeitig zu erreichen.
Irgendetwas traf sie so wuchtig in die Seite, dass sie stolperte und mit einer zweiten Gestalt verknäult in den Sand stürzte. Die Sonne über ihr schien zu blinzeln, als zwei Pfeile dicht über sie hinwegzischten, und noch im Fallen verfolgte Robin hilflos die Spur der Geschosse und begriff, dass sie auf Mussa gezielt waren, der sich hinter das Mädchen duckte. Eine Linie aus hellrotem, leuchtendem Blut rann an der Kehle des Kindes hinab, dann schlug Robin so wuchtig in den Sand, dass sie einen Moment lang benommen liegen blieb.
Der Schatten, der Robin zu Boden gerissen hatte, regte sich. Es war niemand anders als Omar. Noch während sie vergeblich versuchte, die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen, sprang er hoch. In einer fließenden Bewegung glitt seine Hand zum Gürtel und schnellte dann vor. Sonnenlicht brach sich auf Metall und nur einen Augenblick später ertönte ein gurgelnder, halb erstickter Schrei. Robin hob mühsam den Kopf, blinzelte sich den Sand aus den Augen und sah, wie Nemeth - wimmernd vor Angst, aber anscheinend unverletzt - aus der Höhe des Kamelsattels herab in den Sand fiel, während Mussa schwankend dasaß und beide Hände um seinen Hals gekrampft hatte. Zwischen seinen Fingern ragte der Griff des Dolches hervor, den Omar geschleudert hatte. Er versuchte etwas zu sagen, aber über seine Lippen kam nur blutiger Schaum. Einen Moment lang saß er noch da, starrte Omar aus hervorquellenden Augen ebenso ungläubig wie entsetzt an, dann kippte er langsam zur Seite, seine Arme sanken herab und in der nächsten Sekunde schlug er schwer in den Sand.
Endlich kam auch Robin wieder auf die Beine. Sie sah, wie Omar seinen Säbel aus dem Gürtel riss und sich ins Kampfgetümmel stürzte und wie sich schon wieder zwei Assassinen zu ihr umwandten und im selben Augenblick bereits das Interesse an ihr verloren. Auch wenn sie es sich nicht erklären konnte - die Männer schienen ganz genau zu wissen, wer sie war.
Nichts davon spielte im Augenblick eine Rolle. Ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in die sie sich begab, rannte sie zu Nemeth und fiel neben dem Kind auf die Knie; fast gleichzeitig kam auch Saila angelaufen. Sie humpelte und auch ihr Gesicht war blutig - sie schien jedoch nicht schwer verletzt zu sein.
Nemeth begann leise zu wimmern, als Robin sie an der Schulter berührte. Sie wollte sie herumdrehen, aber ein einziger Blick aus Sailas Augen ließ sie innehalten. Mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie Saila ihre Tochter auf die Arme nahm und dann wie ein kleines Kind an die Brust presste.
»Ist sie...?«
Saila schüttelte den Kopf. Sie sah sie nicht an. »Sie lebt«, sagte sie. »Allah hat sie verschont.«
Wieder befielen Robin bei den Worten Sailas leise Schuldgefühle, hatte sie doch ihr Versprechen, die beiden beschützen zu wollen, nicht einlösen können. Sie drehte sich auf den Knien herum, um nach Omar und den anderen zu sehen. Der Kampf war nahezu vorüber. Er war gnadenlos gewesen, aber wie bei jedem Hinterhalt hatte die eigentliche Schlacht nur Augenblicke gedauert. Nur Omar und eine Hand voll Krieger verteidigten sich noch. Der ehemals weiße Sand ringsum war von Hufen zerwühlt, und von dunklen Flecken, zerbrochenen Waffen, toten Menschen und Tieren übersät. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass etliche der reglosen Körper die weiten, schwarzen Gewänder der Assassinen trugen, aber die überwiegende Zahl waren Söldner oder die Männer aus Omars Leibwache.
Auch Omar selbst war verwundet. Aus seinem Oberschenkel ragte der abgebrochene Schaft eines Pfeils, und sein Gesicht war blutüberströmt. Dennoch dachte er nicht daran, sich in sein Schicksal zu ergeben, sondern erwehrte sich gerade in dem Moment, in dem Robin sich herumdrehte, mit zwei wuchtigen Schwerthieben der Angriffe eines Assassinen. Mit einem Fußtritt schleuderte er den Mann zu Boden und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück, als gleich zwei weitere Angreifer auf ihn eindrangen.