Dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Wie auf ein unhörbares Zeichen hin senkten die Assassinen ihre Speere und Schwerter, und wichen ein paar Schritte von den Verteidigern zurück.
»Worauf wartet Ihr?«, schrie Omar. Wütend schwang er seinen Säbel, machte einen Schritt nach vorn und versuchte, nach einem der Assassinen zu schlagen. Der schwarzgewandete Angreifer wich mit einer fast spielerischen Bewegung aus und Omar fand nur mit Mühe sein Gleichgewicht wieder. Sein verletztes Bein war kaum noch in der Lage, das Gewicht seines Körpers zu tragen.
»Kommt nur her!«, schrie Omar. »Was ist mit euch, ihr Feiglinge? Habt ihr Angst, einen verwundeten Mann anzugreifen? Erschöpft sich euer Mut darin, aus dem Hinterhalt zu morden?«
Die Assassinen wichen ein weiteres Stück zurück und dann teilten sich ihre Reihen, um einem einzelnen Reiter auf einem riesigen pechschwarzen Hengst Platz zu machen. Robin erkannte auf Anhieb den schwarz gekleideten Hünen wieder, den sie schon zuvor als den Anführer des Assassinenheeres eingestuft hatte. Auf der Brust seines Pferdes blitzte ein goldenes Schmuckstück, dessen Anblick den Schatten einer Erinnerung in ihr wach rief, ohne dass sie den Gedanken fassen konnte.
Auch Omar hatte den schwarzen Riesen entdeckt und humpelte mit zusammengebissenen Zähnen einen weiteren Schritt in seine Richtung. »Komm her, du Aasgeier!«, schrie er. »Wagst du es, zu kämpfen wie ein Mann, oder ziehst du es vor, mich von deinen Meuchelmördern niedermachen zu lassen und dabei zuzusehen?«
Der Reiter hielt an. Zwei, drei endlos scheinende Herzschläge lang blickte er nur wortlos auf Omar hinab. Sein Gesicht war schwarz verhüllt wie das all seiner Männer, und trotzdem schien Robin irgendetwas daran vertraut zu sein. Etwas, das... aber das war Unsinn. Sie verscheuchte den Gedanken.
Der Anführer der Assassinen hob die Hand und Robin sah ungläubig zu, wie sich eine weitere Gestalt aus den dünn gewordenen Reihen der Verteidiger löste, direkt hinter Omar trat und mit seinem Krummschwert ausholte. Es war niemand anders als Omars eigener Leibwächter!
Jemand stieß einen Warnschrei aus, und Omar versuchte noch herumzuwirbeln, aber es war zu spät. Noch bevor er die Bewegung halb zu Ende gebracht hatte, traf ihn der Säbel mit der Breitseite am Kopf. Omar brach zusammen, und auch die wenigen Überlebenden aus Mussas Söldnerheer sowie Omars Wache ließen endgültig ihre Waffen fallen und ergaben sich in ihr Schicksal. Voller Entsetzen und Hass starrten sie Omars Leibwächter - den Verräter! - an, aber niemand wagte es, seine Waffe gegen ihn zu erheben oder auch nur einen Laut zu sagen.
Auf einen weiteren Wink des Berittenen hin sammelten die Assassinen rasch die fallengelassenen Waffen der Verteidiger ein und trieben sie vor sich her, bis sie mit den Rücken gegen die Felswand dastanden. Der schwarze Riese im Sattel sah schweigend und reglos zu, dann saß er ganz langsam ab, wandte sich um und kam auf Robin zu. Voller Unglauben, ja entsetzt, sog sie die Luft ein, als er die linke Hand hob und das Tuch löste, hinter dem sich bisher sein Gesicht verborgen hatte. Und dennoch war sie nicht wirklich überrascht.
»Harun?!?«, hauchte sie.
»Die korrekte Anrede müsste lauten: Sheik Harun Rashid al Dhin Sinan«, verbesserte sie Harun lächelnd. »Aber wir kennen uns jetzt schon so lange, dass wir auch ruhig bei Harun bleiben können, wenn du möchtest.« Er weidete sich einige Momente lang ganz offen an Robins fassungslosem Gesichtsausdruck, dann machte er eine halbe Drehung und winkte Omars Leibwächter heran. Der Krieger näherte sich gehorsam und deutete eine Verbeugung an, und plötzlich fiel Robin auf, wie wenig er sich von den anderen Assassinen unterschied.
»Das hast du gut gemacht, Faruk«, sagte Harun. »Gib Acht, dass niemand Omar Khalid etwas zuleide tut. Ich will noch mit ihm reden.«
Der Verräter drehte sich rasch herum und ging zu dem bewusstlosen Omar zurück. Harun wandte sich mit einer Lässigkeit, die seinem bisherigen Auftreten Hohn sprach, wieder zu Robin um.
»Sheik Sinan?«, wiederholte Robin schleppend, und immer noch in einem Ton tiefsten Unglaubens. »Du bist... Ihr seid der... der Alte vom Berge?«
Harun lächelte. »Tatsächlich bin ich in einem Alter, in dem man nicht mehr gerne über selbiges spricht, Wüstenrose«, sagte er. »Aber ja, es ist wahr. Manchmal nennt man mich auch so.«
»Dann warst du... ich meine... Ihr...«
Harun griff unter seinen breiten Gürtel und zog einen Sesamkringel darunter hervor. Grinsend biss er ein Stück davon ab und kaute lautstark. »Sie schmecken eigentlich ganz gut«, murmelte er mit vollem Mund. »Wenn auch ein wenig trocken.«
Robin löste den Blick mühsam von Haruns Gesicht und starrte den Sesamkringel zwischen seinen Fingern an. Langsam, ganz allmählich nur, begann sie zu begreifen.
»Was glaubst du, wie zwei Sesamkringel und ein Dolch wie von Geisterhand wohl in ein bewachtes Zimmer kommen? Ich selbst habe sie auf die Fensterbank gelegt. Ein Risiko, wie ich eingestehen muss, aber ein kalkuliertes, und ich wusste, dass Omar schließlich nur Augen für dich hatte.« Er seufzte. »Ich dachte allerdings, wenigstens du hättest an jenem Abend begriffen, wer ich wirklich bin. Schließlich trägst du meinen Ring.«
»Aber wie...« Robin schüttelte hilflos den Kopf. »Ich meine... warum...?«
Harun vertilgte den Rest seines Sesamkringels und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken. Sein Blick glitt flüchtig über Saila und das weinende Kind, das sie in den Armen trug. »Ich hoffe doch, sie sind unversehrt«, sagte er.
Robin nickte. Harun maß sie nun mit einem langen und besorgten Blick. Eine steile Falte erschien zwischen seinen sorgsam gezupften Augenbrauen, als er ihren zerfetzten Ärmel und das Blut darunter gewahrte. Zu Robins Erleichterung stellte er jedoch keine entsprechende Frage, sondern sagte: »Ich fürchte, es wird noch lange dauern, bis Aisha aus dir eine Tänzerin macht - falls es ihr überhaupt je gelingt. Du warst einfach zu lange mit diesen ungewaschenen Rittern zusammen.«
Robin ignorierte seine Worte. »Warum ich? Was wollt Ihr... ausgerechnet von mir?«, murmelte sie.
»Der Ring«, entgegnete Sheik Sinan ernst.
»Der Ring?« Robin hob zögernd die Hand und drehte den goldenen Ring an ihrem Finger. Ihr eigenes Blut war in die eingravierten Schriftzeichen gedrungen und hob die verschlungenen Buchstaben deutlicher hervor, sodass sie ihr plötzlich wie ein Fluch vorkamen. »Aber was... bedeutet das?«
»Dort steht mein Name«, antwortete Harun. Er lächelte flüchtig. »Und da du diesen Ring trägst, muss du wohl mein Eigentum sein. Niemand würde es wagen, ihn zu fälschen, glaube mir.«
»Aber...«
»Und du hast es die ganze Zeit über gewusst, nicht wahr?«
Harun und Robin wandten im selben Moment die Köpfe um. Ein ärgerlicher Ausdruck huschte über Haruns Gesicht, während Robin etwas länger brauchte, um die Stimme als die Omars zu erkennen.
»Omar?« Sie stand auf. Harun machte eine Bewegung, wie um sie daran zu hindern, zuckte aber dann nur mit den Schultern und erhob sich ebenfalls. Wieder fiel ihr auf, wie unglaublich elegant und lautlos sich dieser Koloss von einem Mann zu bewegen imstande war; nur dass seine Eleganz jetzt von einer anderen Art zu sein schien als die, die ihr schon in Omar Khalids Haus an ihm aufgefallen war.
Omar hatte sich zitternd auf die Knie hochgestemmt, als sie und Harun zu ihm traten. Er streifte Harun nur mit einem flüchtigen Blick und starrte dann Robin an. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und Leid und das, was sie in seinen Augen las, ließ sie innerlich erschauern.