»Du hast es die ganze Zeit über gewusst, nicht wahr?«, wiederholte er bitter. »Ihr kennt euch. Ihr habt euch schon immer gekannt. Ist es nicht so? Hat es dich amüsiert?«
»Was?«, flüsterte Robin.
»Gestern Nacht. Hast du still vor dich hingelacht, nachdem ich gegangen bin? Hast du dich über den Narren lustig gemacht, der vor dir im Staub gekrochen ist und bereit war, sein Leben für dich wegzuwerfen?«
»Aber ich wusste doch nicht...«, setzte Robin an.
»Hör auf!«, unterbrach sie Omar. Er deutete mit seiner blutverschmierten Hand auf die Toten, die den Sand ringsum bedeckten. »Ich hoffe, du bist zufrieden. Die wenigen, die treu zu mir gestanden haben, sind tot, aber du lebst, und das, obwohl du Männerkleidung getragen hast und von den anderen nicht zu unterscheiden warst. Sie haben dich verschont. Mach mir nichts vor!«
Robin schwieg betroffen. Sie wollte widersprechen, aber sie fand nicht die richtigen Worte. Zugleich war sie auch zutiefst verletzt, dass der Mann, der ihr ewige Liebe geschworen hatte, ihr einen solchen Verrat zutraute. Andererseits - wie konnte er etwas anderes vermuten? Sie wusste ja längst selbst nicht mehr, was und vor allem wem sie noch glauben konnte.
Harun hatte bis jetzt schweigend zugehört. Nun trat er an Omars Seite und sah mitleidlos auf ihn herab. »Für einen Mann, der versucht hat, mir mein eigenes Eigentum zu verkaufen, der nun vor mir am Boden liegt wie ein Wurm, den ich unter dem Absatz meines Stiefels schon zur Hälfte zerquetscht habe, für einen solchen Mann nimmst du den Mund immer noch ganz schön voll, finde ich. Was ist das - Mut oder einfach nur Unverfrorenheit? Oder Verzweiflung?«
Statt zu antworten, griff Omar blitzschnell nach dem Dolch, den er unter seinem Gürtel verborgen trug. Noch ehe er dazu kam, Harun anzugreifen, machte der vermeintlich so schwerfällige Mann einen Schritt zur Seite und trat Omar aus der gleichen Bewegung heraus mit solcher Gewalt vor die Hand, dass Robin hören konnte, wie Knochen brachen. Der Dolch flog in hohem Bogen davon, und Omar krümmte sich wimmernd und presste die gebrochene Hand gegen den Leib.
»Soll ich ihn töten?«, fragte Faruk.
Harun winkte ab und beugte sich spöttisch zu Omar hinunter. »Das Morden solltest du den Mördern überlassen, mein Freund«, sagte er. »Ich erdumme mich schließlich auch nicht, mich im Sklavenhandel zu versuchen. Ein sehr weiser Mann hat einmal gesagt, jeder werde mit der Fähigkeit geboren, eine einzige Sache außerordentlich gut zu können, aber die Tragödie des Lebens sei, dass die meisten niemals herausfinden, was ihre Begabung ist. Ich bin von Allah mit gleich zwei Gaben gesegnet und deshalb wohl ein Auserwählter. Ich vermag es, zu täuschen sowie Männer durch meine Worte so sehr an mich zu binden, dass sie alles für mich zu tun bereit sind. Ich glaube, deine Gabe besteht darin, in Windeseile Karawanen zu organisieren. Dein schneller Aufbruch aus Hama hat selbst mich überrascht, das muss ich gestehen.«
Omar blickte verbittert auf die Toten, die den Sand ringsum bedeckten. »Das sehe ich.«
»Weißt du, dein großer Fehler war, nicht zu glauben, dass wir Assassinen...«, Harun zögerte einen Moment, als müsste er nach den richtigen Worten suchen, »... anders sind. Du konntest den Sultan täuschen und du wärest sicher auch den ebenso fanatischen wie hoffnungslos fantasielosen Templern entkommen. Was du nicht bedacht hast, das war, dass ein Assassinenführer keinen Moment zögert, seine Männer in den sicheren Tod zu schicken, wenn es ihre Aufgabe erfordert - und sie keinen Moment, diesem Befehl zu folgen. Sie alle wurden einzig und allein auserwählt, um für ihre Aufgabe zu sterben, denn sie wissen, dass sie mit den unendlichen Freuden des Paradieses dafür belohnt werden.«
»Aber Ihr... Ihr werdet alle sterben«, murmelte Robin. »Eure Pferde...«
Harun unterbrach sie mit einem Lächeln. »Das war ein kluger Plan, ich gestehe es. Unsere Pferde haben uns bis hierher gebracht, aber sehr viel weiter werden sie wohl nicht durchhalten. Von hier aus gibt es kein Zurück mehr.«
»Aber wozu dann das alles?«, murmelte Robin.
Harun alias Sheik Rashid Sinan lächelte breit. »Kein Zurück mehr zu Pferde, das ist wahr«, sagte er. »Aber jetzt haben wir genug Kamele und Wasserschläuche, um wieder nach Masyaf zurückkehren zu können. Und dennoch... hättet ihr nur einen halben Tag mehr Vorsprung gehabt, dann wäret ihr meinen Männern vielleicht entkommen. Der Sandsturm hätte eure Spuren getilgt - und hätte er statt ein paar Stunden einen Tag gedauert, dann wären meine Männer darin zugrunde gegangen.« Er wandte sich wieder an Omar. »Du siehst, du hättest entkommen können. Doch Allah wollte es nicht.«
»Verspotte mich nicht und missbrauche nicht Allahs Namen«, zischte Omar. Sein Gesicht hatte nun auch jeden Rest an Farbe verloren. Er zitterte, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Seine Hand musste entsetzlich schmerzen. »Bringt es endlich zu Ende und gebt Eurem verräterischen Freund den Befehl, mich zu töten.«
Harun deutete ein Kopfschütteln an. »Du wirst uns begleiten«, sagte er. »Ich werde später über dein Schicksal entscheiden. Vor einem Mann, der von Kindesbeinen an mit Geschichten über die Schatten und ihre Allmacht aufgewachsen ist und es dennoch wagt, uns herauszufordern, vor einem solchen Mann habe ich Respekt. Und vor allem war ich schon immer der Meinung, dass jeder Mann eine zweite Chance verdient. Du hattest einmal die Gelegenheit, einen gewaltigen Fehler zu begehen, und du hast sie ergriffen. Ergreifst du sie ein zweites Mal, bist du tot.« Er richtete sich auf. »Versorgt seine Wunden, und begrabt unsere Toten.«
»Und die Gefangenen?«, fragte Faruk.
»Tötet sie«, sagte Harun. »Für Männer, die lieber ihre Waffen fortwerfen, als ihr Leben für die Sache ihres Herrn zu opfern, habe ich keine Verwendung. Ich wünsche, dass wir in einer Stunde für den Aufbruch bereit sind.«
20. KAPITEL
Zwei Tage später ritt das spärliche Trüppchen, das von der Karawane noch übrig geblieben war, durch einen schmalen Bergpass in ein kleines Dorf ein, dessen Häuser aus hellem Sandstein erbaut waren. Das Erste, was Robin sah, waren flache, mitunter mit niedrigen Kuppeln oder kleinen Zinnenkronen geschmückte Dächer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier waren, ja, sie hätte nicht einmal zu sagen vermocht, in welche Richtung sie geritten waren oder wie weit und wie schnell. Ihr Trupp war auf weniger als ein Drittel seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft, wobei die Zusammensetzung jedoch gewechselt hatte.
Sie waren tatsächlich nach weniger als einer Stunde aufgebrochen, und noch im Laufe desselben Tages waren die Pferde der Assassinen eines nach dem anderen zusammengebrochen, sodass die Männer nach und nach auf die erbeuteten Kamele übergewechselt waren. Nur Harun selbst ritt noch eine Zeit lang sein gewaltiges schwarzes Schlachtross, doch auch die Kräfte dieses prachtvollen Tieres schwanden zusehends. Während des zurückliegenden Tages hatte Harun nicht mehr in seinem Sattel gesessen, sondern war ebenfalls auf ein Kamel gestiegen und hatte das Pferd am Zügel neben sich hergeführt. Zwei- oder dreimal hatten sie angehalten und gewartet, bis die Flanken des Tieres aufhörten zu zittern und von seinen Nüstern kein schaumiger Schweiß mehr tropfte.
Nach der Erbarmungslosigkeit, mit der Harun vor zwei Tagen befohlen hatte, die Gefangenen zu töten, war es Robin fast absurd vorgekommen, dass sich dieser riesige, harte Mann so sanft und mitfühlend um sein Pferd kümmerte wie eine Mutter um ihr Kind. Aber sie hatte ihn nicht darauf angesprochen, und auch Harun hatte es während der gesamten Reise bei ein paar Belanglosigkeiten und einem gelegentlichen Lächeln belassen. Ihre bohrenden Fragen nach dem Ring, seiner Bedeutung und vor allem seiner Herkunft hatte er ebenso übergangen wie ihre Bitte, sich um Nemeth und ihre Mutter kümmern zu dürfen. Die beiden gehörten, ebenso wie Omar, zu den Nachzüglern der Karawane, die nun das Dorf erreichten. Robin war die ganze Zeit über streng von ihnen getrennt worden und hatte auch während der Nacht in einem eigenen Zelt geschlafen, das von drei schweigsamen Assassinenkriegern bewacht wurde.