Erneut wurden ihre Knie weich. Robin machte einen weiteren Schritt zurück und zur Seite, lehnte sich mit Rücken und Hinterkopf gegen den warmen Sandstein und spürte, wie ihre Lider schwer zu werden begannen. Ihre Kräfte waren aufgebraucht, endgültig und unwiderruflich, und nun, wo sie ihr Ziel erreicht hatten, forderte ihr Körper mit aller Macht, was ihm zustand. Die Festung begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Alles drehte sich um sie.
»Du hast mir jetzt bewiesen, dass du ebenso viel zu leisten vermagst wie der tapferste meiner Krieger, Ungläubige. Bestehst du darauf, das Spiel auf die Spitze zu treiben, oder lässt du dich von mir in den Schatten und zu einem großen Krug kalten Wassers bringen, bevor du zusammenbrichst?«
Sie setzte zu einer Antwort an, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen hervor, und fuhr sich mit ihrer trockenen Zungenspitze über noch trockenere Lippen, ehe sie erneut ansetzte: »Ich will... auf Nemeth warten.«
»Nemeth?« Harun legte fragend den Kopf auf die Seite. »Bist du sicher, dass du nicht Omar meinst?«
Nein, sie war ganz und gar nicht sicher. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft, die Antwort auch nur in Gedanken zu formulieren, geschweige denn, sie auszusprechen. Müde schüttelte sie den Kopf, lehnte die Schulter wieder gegen die Wand und drehte sich zur Seite, sodass sie den Ausgang des Tunnels beobachten konnte.
Auf dieser Seite gab es kein Tor, sondern nur ein massives Rollgatter, das ganz nach oben gezogen worden war. In einer langen, weit auseinander gezogenen Kette traten die Männer heraus, die es bis hierher geschafft hatten, - ein zerschlagener, bemitleidenswerter Haufen taumelnder Gestalten, von denen einige kaum noch die Kraft hatten, sich auf den Beinen zu halten.
Von der Armee Furcht einflößender, schwarzer Geister, als die sie ihr vor zwei Tagen in der Wüste vorgekommen waren, war nichts mehr geblieben. Wenn die Männer in der gleichen Reihenfolge aus dem Tunnel traten, in der sich die Karawane durch das Dorf und den Felsenpfad hinaufbewegt hatte, dann würden Nemeth, Saila und Omar zu den Letzten gehören, die den Hof betraten. Robin versuchte, die schwarzen Gestalten zu zählen, die neben ihr aus dem Tunnel kamen, aber ihre Augen versagten ihr den Dienst. Sie spürte noch, wie ihre Sinne schwanden, aber nicht mehr, wie ihre Knie unter dem Gewicht ihres Körpers nachgaben und sie stürzte, und schon gar nicht mehr, wie Harun im letzten Augenblick vorsprang und sie auffing.
21. KAPITEL
Jemand fächelte ihr kühle Luft ins Gesicht. Vielleicht zum ersten Mal seit einer Million Jahren oder mehr lag sie nicht auf hartem Stein oder scheuerndem Sand, als sie erwachte, sondern auf einem weichen, kühlen Stoff, und sie roch keinen verbrannten Fels oder die Ausdünstungen eines Kamels, sondern süßen Blumenduft. Und schon im nächsten Moment war ihr klar, dass sie sich im Paradies befand. Das musste so sein, denn etwas berührte kühl und feucht ihre Lippen, und dann benetzte Wasser - Wasser! - ihren ausgedörrten Gaumen. Ganz zweifellos war sie gestorben, und Gott hatte entschieden, dass sie in ihrem kurzen Leben genug gelitten und erduldet hatte, um mit den ewigen Freuden des Paradieses belohnt zu werden.
Robin öffnete die Augen, blinzelte und sah dann noch einmal und genauer hin. Das unbeschreiblich köstliche Gefühl kalten Wassers auf ihren gerissenen Lippen blieb. Aber wenn das hier wirklich das Paradies war, dann musste der Wächter vorne an seinem Tor entweder sehr unaufmerksam sein oder die ganze Geschichte lief nach anderen Spielregeln ab, als sie und der Rest der Welt bisher angenommen hatten. Das halb verschleierte Gesicht, das auf sie herabsah, gehörte weder Petrus noch dem Erzengel Gabriel, sondern niemand anders als Aisha.
Robin fuhr mit einem Ruck hoch, aber die Araberin drückte sie mit sanfter Gewalt auf das Kissen zurück, auf dem sie erwacht war. Erneut begann sie, mit einem kleinen Schwamm ihre Lippen zu betupfen. Alles in Robin schrie danach, ihr diesen Schwamm aus den Händen zu reißen und ihn zur Gänze in den Mund zu stecken, um ihn bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Aber sie beherrschte sich und beließ es stattdessen dabei, die wenigen kostbaren Tropfen zu genießen, die den Weg über ihre Lippen fanden und ihren Gaumen und ihre ausgedörrte Zunge benetzten.
»Du bekommst gleich Wasser«, sagte Aisha. »Aber du musst ein wenig Geduld haben. Du dummes Ding!« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augenbrauen zogen sich tadelnd zusammen. »Wer hat dir gesagt, dass du draußen in der Sonne stehen bleiben sollst? Was hattest du vor - dich umzubringen?«
Robin zog es vor, nicht auf diese Frage zu antworten und auch nicht darüber nachzudenken. Vermutlich wäre die Antwort ein Ja gewesen.
»Wo ist...?«
Aisha zog das Schwämmchen zurück, als Robin zu sprechen versuchte, drehte es herum und betrachtete es einen Moment stirnrunzelnd. Robins Durst erwachte zu unmäßiger Gier, als sie das Schwämmchen sah, das dunkel vor Wasser war; doch dann erschrak sie, denn auch ihr eigenes Blut und kleine Hautfetzchen waren daran haften geblieben. Zum ersten Mal seit Tagen fragte sie sich, welchen Anblick sie wohl bieten mochte.
»Wenn du nach diesem Kind, an das du ja zweifellos dein Herz verschenkt hast, und nach seiner Mutter fragen wolltest«, antwortete Aisha, während sie den Schwamm auf ein kleines Tischchen neben dem Bett legte und mit der anderen Hand nach einem Stapel säuberlich zusammengefalteter weißer Tücher griff, der neben einer bis an den Rand mit Wasser gefüllten Schale darauf stand, »dann kann ich dich beruhigen. Sie sind in Sicherheit, und es geht ihnen wesentlich besser als dir. Im Gegensatz zu dir waren sie nämlich nicht so närrisch, mit aller Gewalt herausfinden zu wollen, wie viel ein Mensch aushält, bevor ihn die Sonne tötet.«
Sie tauchte das Tuch ins Wasser, wrang es mit quälend langsamen Bewegungen über der Schale wieder aus und betupfte dann Robins Stirn und Wangen. Es war wie die Berührung eines Engels. Robin schloss die Augen und genoss für einen Moment nichts anderes als die herrliche Kühle.
»Wenn du mir versprichst, nicht zu gierig zu schlucken, bekommst du jetzt Wasser«, versprach Aisha.
Robin nickte. Sie hoffte, dass sie ihr Wort halten würde. Aisha sah sie so misstrauisch an, als hätte sie ihre Gedanken gelesen, die in diesem Moment wohl deutlich sichtbar auf ihrem Gesicht geschrieben standen. Und anstatt ihr einen Becher mit Wasser zu reichen, wie Robin gehofft hatte, gestattete sie ihr nur, einen Zipfel des Tuches in den Mund zu stecken und auszusaugen. Erst als sie Zunge und Gaumen hinlänglich befeuchtet hatte, nahm sie ihr das Tuch ab und setzte einen kleinen silbernen Becher an ihre Lippen.
Trotz aller guten Vorsätze trank Robin so hastig, dass sie sich prompt verschluckte und ins Husten geriet. Aisha schüttelte tadelnd den Kopf, nahm das Tuch und wischte ihr das verschüttete Wasser von Kinn und Hals. Anschließend schob sie ihr den Arm unter Nacken und Schultern, damit sie sich aufrichten und so bequemer trinken konnte. Robin leerte den Becher mit kleineren, noch immer gierigen Schlucken.
»Mehr!«, verlangte sie.
Aisha schüttelte den Kopf und stellte den Becher neben die bis zum Rand gefüllte Wasserschale auf dem Tisch. »Gleich«, sagte sie. »Nur ein paar Augenblicke.« Sie seufzte tief. Ein sonderbar milder Ausdruck erschien in ihren wunderschönen Augen, etwas, das Robin noch nie darin gesehen und das zu erblicken sie bis zu diesem Moment auch für vollkommen ausgeschlossen gehalten hätte. »Nach allem, was mein Herr mir über dich erzählt hat, warst du sehr, sehr tapfer. Aber auch sehr dumm. Dabei bist du doch fast noch ein Kind.«
»Immerhin bin ich erwachsen genug, dass sich so genannte erwachsene Männer um mich schlagen«, antwortete Robin.
Aisha ließ ein helles Lachen erklingen. »Oh, glaub mir, meine Kleine«, sagte sie. »Wenn es um Frauen geht, dann benehmen sich so genannte erwachsene Männer oft genug wie Kinder.« Sie lachte noch immer, sah Robin einen Moment lang abschätzend an und füllte den Becher ein zweites Mal mit Wasser, um ihn ihr zu reichen.