Robin leerte ihn ebenso gierig und schnell wie den ersten und sogleich spürte sie, wie ihr Magen zu rebellieren begann. Ihr Körper schrie noch immer nach Wasser - und würde vermutlich auch bis in alle Ewigkeit nicht mehr damit aufhören. Aber wenn sie zu schnell und vor allem zu hastig trank, dann würde sie die kostbare Flüssigkeit möglicherweise wieder von sich geben, und allein der Gedanke an die damit verbundene Peinlichkeit hielt sie davon ab, auf der Stelle nach einem dritten Becher zu verlangen. Aisha hätte ihn ihr vermutlich sowieso nicht gewährt.
Stattdessen stemmte sie sich mühsam auf die Ellbogen hoch und schwang dann sehr behutsam die Beine von dem Bett, in dem sie aufgewacht war. Sie wartete darauf, dass ihr schwindelig wurde, aber als das nicht geschah, hob sie vorsichtig den Kopf und sah sich um.
Sie hätte selbst nicht sagen können, was sie erwartet hatte: Das Zimmer war auf jeden Fall eine Enttäuschung. Es war winzig, hatte nur ein schmales Fenster, das von nichts anderem als weißem Sonnenlicht erfüllt war, und enthielt mit Ausnahme des Bettes, auf dem sie erwacht war, des kleinen Tischchens daneben und eines einzelnen Schemels keinerlei Mobiliar. Die Tür war verschlossen, und sie konnte, zumindest auf dieser Seite, keinen Riegel erkennen.
»Wo bin ich?«, fragte sie.
»In dem ersten Raum mit Schatten und einem Bett, den wir gefunden haben.« Offensichtlich hatte Aisha nur auf eine Frage gewartet, in deren Antwort sie einen Tadel unterbringen konnte. »Keine Sorge - deine Gemächer werden ein wenig komfortabler sein.«
Robin sah sie fragend an, aber der warme, fast mütterliche Ausdruck in Aishas Augen war schon wieder verschwunden. Sie war nicht einmal mehr wirklich sicher, ob er tatsächlich da gewesen war.
»Und wie lange...?«
Wieder schüttelte Aisha den Kopf. »Nicht sehr lange«, sagte sie. »Keine Sorge - du hast nicht viel verpasst. Allenfalls das Morgengebet. Aber ich nehme ohnehin nicht an, dass du daran teilnehmen wolltest.«
Es dauerte einen kurzen Moment, bis Robin ganz begriff, was sie gerade gehört hatte. »Morgengebet? War ich etwa...?«
»Du warst ohnmächtig, und danach hast du geschlafen, ja«, bestätigte Aisha. »Wir haben die ganze Nacht abwechselnd an deinem Lager Wache gehalten.«
»Wir?«
Aisha nickte. »Dein zukünftiger Gemahl und ich«, antwortete sie. Ihre Stimme wurde eindeutig spöttisch, als sie fortfuhr: »Aber keine Angst. Ich war die meiste Zeit anwesend und habe über deine Tugend gewacht.«
»Mein... zukünftiger Gemahl?«, wiederholte Robin vorsichtig.
Die Araberin stand auf. Die winzigen Goldplättchen, die den Schleier vor ihrem zerstörten Gesicht verzierten, klimperten im Takt der Bewegung. »Hast du wirklich schon vergessen, warum du hierher gebracht wurdest? Der Herr über diese Festung hat gewiss nicht seines und das Leben so vieler Männer aufs Spiel gesetzt, weil er eine neue Küchensklavin gesucht hat.« Sie machte eine einladende Handbewegung. »Wer kräftig genug ist, so viele Fragen zu stellen, der wird wohl auch Treppen steigen können, nehme ich an?«
Robin schluckte die scharfe Antwort, die ihr auf der Zunge lag, herunter und erhob sich vorsichtig. Bislang hatte sie sich gesträubt zu glauben, dass sie tatsächlich einen halben Tag und die ganze Nacht hier gelegen haben sollte, aber anscheinend hatte Aisha die Wahrheit gesagt. Sie fühlte sich noch immer matt und ein wenig unsicher auf den Beinen und jede Faser ihres Körpers schmerzte, aber ihre Kräfte waren zurückgekehrt. Die Erschöpfung, die sie nun spürte, und vermutlich auch noch für viele Tage spüren würde, war eher wohliger Art. »Wohin bringst du mich?«
»In Eure neuen Gemächer, Gebieterin«, antwortete Aisha spöttisch.
Ihre neuen Gemächer... Robin fröstelte. Den Harem, hatte Aisha wohl gemeint. Robin gestand sich ein, dass sie nicht genau wusste, was sie unter diesem Begriff zu verstehen hatte. Doch hatte sie so viele Halbwahrheiten, Geschichten und Andeutungen darüber gehört, dass sie ihn schon jetzt fürchtete. Nach einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Schale mit Wasser nickte sie andeutungsweise in Aishas Richtung und folgte ihr.
Die Tür führte auf einen kleinen, von einem hüfthohen steinernen Geländer umgebenen Balkon hinaus. Zumindest in einem Punkt hatte Aisha die Unwahrheit gesagt: Dies war ganz bestimmt nicht das erste Zimmer mit einem Dach und einem Bett, das sie gefunden hatte, denn es befand sich in einem abgelegenen Teil der Bergfestung. Weit unter ihr lag der Hof, auf den sie und die anderen aus dem Tunnel getreten waren. Es war nur ein schmaler Graben zwischen den unterschiedlich hohen Wällen der Festung, die, von hier aus betrachtet, einen viel wehrhafteren Eindruck machte als von außen.
Robin, in deren Brust trotz allem noch das Herz eines Ritters schlug, der Gebäude stets nach Gesichtspunkten von Verteidigung und Wehrhaftigkeit betrachtete, erkannte sofort, dass dieser Graben für jeden Angreifer, dem es gelang, den äußeren Wall zu überrennen oder sich durch den Tunnel Einlass zu verschaffen, zur tödlichen Falle werden musste. Die Zinnen des Festungswalls waren hoch und mit Schießscharten versehen, deren Schussfeld sich gegenseitig überlappte. Soweit sie es von hier oben aus beurteilen konnte, gab es nur einen einzigen, äußerst stark befestigten Eingang zur inneren Burg. Masyaf, dachte sie, war nicht nur eine sagenumwobene Festung, sondern auch eine, die kaum zu erobern war.
»Du hast später noch Zeit genug, dich umzusehen«, drang Aishas Stimme in ihre Gedanken. Sie klang leicht ungeduldig. »Jetzt komm. Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit, wenn wir dich bis zum Abend in einen halbwegs ansehnlichen Zustand versetzen sollen.«
Robin war nicht sonderlich erpicht darauf, in einen ansehnlichen Zustand versetzt zu werden - nicht, nachdem sie nun wusste, wozu diese Zeremonie dienen sollte. Aber der kurze Blick in die Runde hatte ihr nicht nur viel über Masyaf verraten, sondern ihr vor allem eines gezeigt: Auch wenn Aisha und sie die einzigen lebenden Wesen in weitem Umkreis zu sein schienen - denn sie konnte weder Wächter noch einen der schwarz gekleideten Krieger hinter den Zinnen oder unten auf dem Hof erkennen -, so wäre der Versuch einer Flucht in diesem Moment und von diesem Ort aus doch vollkommen aussichtslos. Sie hob müde die Schultern und hoffte, dass Aisha diese Geste als Fügsamkeit in ihr Schicksal auslegte. In Wahrheit war sie jetzt mehr denn je entschlossen, von diesem unheimlichen Ort zu fliehen.
Vorerst jedoch führte sie Aisha über eine schmale, aus dem natürlich gewachsenen Felsen gemeißelte Treppe hinauf. Sie erreichten einen hellen, säulengeschmückten Kreuzgang und von dort aus einen massigen Turm. Jetzt stieß sie zum ersten Mal auch wieder auf Haruns Krieger. Zwei der Männer standen völlig reglos vor dem einzigen, niedrigen Tor des Turmes, trotz der mörderischen Hitze in ihre schwarzen Gewänder gehüllt und mit verschleierten Gesichtern. Selbst jetzt, wo ihr ihre Sinne keine bösen Streiche mehr spielten und sie nicht mehr halb wahnsinnig vor Angst und Durst war, kamen ihr die beiden Assassinen noch immer mehr wie Gespenster denn wie lebende Menschen vor.
Auf einen Wink Aishas hin öffnete eine der Wachen die Tür, um sich unverzüglich wieder auf ihren Posten zurückzuziehen. Der Mann sah nicht in ihre Richtung, als Aisha durch das Tor trat und Robin mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand aufforderte, ihr zu folgen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie. »Zu diesem Turm haben allein die Frauen des Scheichs und ihre Dienerinnen Zugang. Kein Mann kommt jemals hierher. Nicht einmal Sheik Sinan selbst.«
Robin war im ersten Moment irritiert. Dann aber begriff sie, dass Aisha die Blicke, mit denen sie die beiden Männer gemustert hatte, nicht verborgen geblieben waren. Sie hatte sie jedoch offensichtlich vollkommen falsch gedeutet. Gut. Ihr sollte es recht sein. Ohne zu antworten, trat sie hinter Aisha durch das Tor und folgte ihr eine schmale, gewendelte Treppe hinauf. Kühles Halbdunkel hüllte sie ein, als die Wächter hinter ihnen die Tür wieder schlossen.