Auch hier stammte das einzige Licht von schmalen, schräg nach oben durch die Wände getriebenen Schlitzen, durch die flirrende Sonnenstrahlen hereinfielen. Robin begriff, dass dieser Turm einzig nach Verteidigungsgesichtspunkten erbaut war und seine Architekten keinen besonderen Wert auf Komfort gelegt hatten. Die Treppe führte zu mindestens einem halben Dutzend Etagen hinauf, zu der jeweils eine einzelne Tür Zugang bot, die sie allesamt passierten. Nur ein einziges Mal ging eine dieser Türen in eine andere Richtung. Sie war nicht ganz geschlossen, sodass Robin einen flüchtigen Blick auf den Wehrgang der angrenzenden Mauer erhaschte, aber nicht erkennen konnte, was dahinter lag.
Es war sehr still. Der Turm hatte entweder keine anderen Bewohner oder seine Mauern waren so dick, dass sie jedes Geräusch verschluckten wie ein Schwamm ein paar Tropfen Feuchtigkeit.
Endlich erreichten sie ihr Ziel, das im obersten Stockwerk des Turmes liegen musste. Aisha zog einen großen, kunstvoll geschmiedeten Schlüssel unter ihrem Gewand hervor. Robin fuhr bei diesem Anblick ganz leicht zusammen, denn mehr noch als alles andere machte er ihr klar, dass sie wieder eine Gefangene war. Schließlich öffnete Aisha die Tür und bedeutete Robin mit einer übertriebenen Geste, an ihr vorbeizugehen.
Robin hatte ein kleines Zimmer erwartet, eine Zelle, allenfalls einen Raum, wie sie ihn in Omar Khalids Sklavenhaus bewohnt hatte, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Die gesamte Etage schien nur aus einem einzigen großen Zimmer zu bestehen, an dessen Decke mehrere duftige Vorhänge in lauschigen Bögen befestigt waren, mit denen man es vermutlich unterteilen konnte. Es war sehr hell hier drinnen. Auf der einen Seite, die zum Hof hin lag, gab es eine Reihe großer Fenster. Sie hatten keine Gitter, und das war zwanzig oder gar dreißig Meter über dem Boden auch gar nicht notwendig, da allein schon die Höhe der Fenster jeden Fluchtversuch ausschloss. Robin war dennoch erleichtert beim Anblick der unvergitterten Fenster. Dafür bedauerte sie es umso mehr, dass sich in der nach außen hin gelegenen Seite nur tief ins Mauerwerk eingelassene Schießscharten befanden.
»Ich verstehe immer weniger, was unser Herr an dir findet«, sagte Aisha kopfschüttelnd, als Robin an ihr vorbeiging. »Du hast zwar keine nennenswerten Höcker, aber dafür stinkst du wie ein Kamel.« Ein abfälliges Lächeln huschte ihr über das Gesicht. »Ach ja, ich vergaß ja, wo du aufgewachsen bist. In eurem so genannten Ritterorden gilt es ja als Tugend, ungewaschen zu sein und zu stinken, nicht wahr?«
Robin schluckte die Antwort herunter, zu der sie schon angesetzt hatte. Aishas Spott war ihr umso unverständlicher, als sich die Araberin gerade noch so mütterlich besorgt gezeigt hatte. Was wollte sie nur damit erreichen?
»Worauf wartest du?«, fragte Aisha ungeduldig, als sie sich nicht rührte, sondern sie nur wortlos ansah.
»Was soll ich denn hier?«, fragte Robin. »Ist das euer... Harem?«
Aisha sah sie einen kurzen Moment lang verblüfft an, dann begann sie schallend zu lachen. Ganz offensichtlich hatte Robin eine ziemlich dumme Frage gestellt.
»Nein«, sagte sie. »Jemand in deinem Zustand käme nicht einmal in die Nähe des Harems.« Sie schüttelte den Kopf. »Ginge es nach mir, wärest du überhaupt nicht hier, gleich ob gewaschen oder ungewaschen. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidungen meines Herrn in Zweifel zu ziehen.« Sie seufzte, und ihre Stimme wurde fast wehleidig. »Mir obliegt nur die Aufgabe, dich in einen halbwegs vorzeigbaren Zustand zu versetzen. Auch wenn ich nicht weiß, warum Allah mich einer solch schweren Prüfung unterzieht, denn ich fürchte, ich werde daran scheitern.«
Robin war inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht lohnte, auf Aishas Sticheleien einzugehen. Die Araberin spielte eine Rolle, das hatte sie mittlerweile begriffen. Ihr war nur noch nicht klar, wann sie ihr wahres Gesicht offenbart hatte: Vorhin, als sie sie wie eine Mutter ihr krankes Kind in den Arm genommen und zärtlich ihr Gesicht abgetupft hatte, oder jetzt, als es ihr so offensichtliche Freude bereitete, an ihr herumzumäkeln. Statt zu antworten und Aisha einmal mehr die Gelegenheit zu einer Stichelei zu geben, machte sie einen großen Schritt an ihr vorbei und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Im Gegensatz zu seiner erstaunlichen Größe fehlte nahezu jegliches Mobiliar. Den Boden bedeckte ein kunstvolles Mosaik und die dünnen, prachtvoll verzierten Vorhänge, die in wolkigen Bögen unter der Decke schwebten, wären in ihrer Heimat ein Vermögen wert gewesen. Dafür fehlten allerdings Bilder, Teppiche oder anderes Schmuckwerk an den Wänden; sie waren im schlichten sandfarbenen Ton des Gesteins belassen worden, als wollten sie den Betrachter nicht vergessen lassen, dass er sich in einer uneinnehmbaren Festung befand.
So war es denn auch kein Wunder, dass sie weder eine Fluchtmöglichkeit entdeckte noch irgendetwas, was sich als Waffe hätte benutzen lassen. Ihr Blick glitt suchend über einen Tisch und zwei niedrige, lehnenlose Hocker, die vor einem der großen Fenster standen, und blieb schließlich auf etwas haften, was wie eine große steinerne Pferdetränke aussah. Was ein solch riesiger Steintrog im vierten oder fünften Stock für einen Sinn machen sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Das einzig Rätselhafte, was ihr sonst noch auffiel, war ein dichter, bauschiger Vorhang, der einen Bereich an der Südseite abtrennte.
Als sie jenseits des Vorhangs ein Geräusch wahrnahm, wäre sie am liebsten gleich dort hingeeilt, um ihm sein Geheimnis zu entreißen - aber sie ahnte, dass Aisha das nicht gestatten würde. Sie hatte durchaus nicht vergessen, wie fest Haruns Leibsklavin zuzupacken verstand; wahrscheinlich hatte sie trotz aller gegenteiligen Beteuerungen über die Rolle der Frauen in diesem Land eine ähnliche Kampfausbildung genossen wie die Schatten, die das Leben des Sheiks mit ihrem eigenen zu schützen bereit waren.
Statt ihre Neugier zu befriedigen, trat sie mit schnellen Schritten an eines der Fenster und blickte hinaus. Was sie sah, ließ sie vor Erstaunen den Atem anhalten. Nach dem wehrhaften Äußeren Masyafs hatte sie erwartet, auch in seinem Inneren etwas Ähnliches zu erblicken: ein verschachteltes Labyrinth aus Türmen, Erkern, Zinnen, Wehrgängen und Schießscharten, einzig dazu bestimmt, dem Ansturm jedes nur vorstellbaren Feindes zu trotzen.
Doch der Anblick, der sich ihr bot, war das genaue Gegenteil. Die Fenster führten auf den großen, asymmetrisch angelegten Innenhof der Burg hinaus, aber es war nicht wirklich ein Hof, sondern ein blühender Garten, in dem Palmen und bunte Büsche wuchsen, Wildblumen in allen nur erdenklichen Farben und Arten, blühende Sträucher und uralte, Früchte tragende Bäume. Ein betörender Duft wehte zu ihr hinauf, sie hörte Vögel singen und das unendlich süße Geräusch von plätscherndem Wasser, das von den künstlich angelegten Bächen und Springbrunnen dort unten heraufdrang. Der Garten war verlassen, aber es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich lustwandelnde Menschen darin vorzustellen, verliebte Paare, die Hand in Hand gingen, spielende Kinder oder einfach nur Müßiggänger, die das Übermaß an Leben und Farbe genossen, das hier, im Herzen der heißesten und tödlichsten Wüste, die sie sich nur vorstellen konnte, auf sie wartete.
Selbst die Mauern und Gebäude, die diesen Garten Eden einschlossen, standen im deutlichen Kontrast zu den düsteren Außenbereichen Masyafs. Sie waren hoch und endeten in zinnenbesetzten Kronen, aber das war auch schon die einzige Ähnlichkeit. Es gab zahlreiche Fenster, Balkone und luftige Säulengänge und alles war aus weißem Marmor gefertigt, der in der Sonne schimmerte wie frisch gefallener Schnee. Robin hörte Aishas Schritte hinter sich, aber sie blieb einfach stehen und betrachtete das unglaubliche Bild unter sich. Sie wagte nicht zu blinzeln, aus Angst, das Trugbild könnte verschwunden sein, wenn sie die Lider wieder hob.