Im Fallen nutzte Robin den Schwung ihres Sturzes, um sofort wieder auf die Beine zu kommen und dabei gleichzeitig ihr Schwert zu ziehen. Als sich der Sarazene keuchend erhob und nach dem Krummsäbel griff, den er bei seinem Sturz verloren hatte, war sie bereits wieder auf den Füßen und drei, vier Schritte von ihm entfernt.
Als ihr Gegner mit einem wütenden Knurren auf sie losging, reagierte sie genau, wie Salim es ihr gezeigt hatte: Sie fing den Schwerthieb mit ihrer eigenen hochgerissenen Klinge ab. Der Sarazene taumelte zurück, offensichtlich vollkommen überrascht, dass sich sein vermeintlich wehrloses Opfer nicht einfach abschlachten lassen wollte. Diesmal würde sie ihre Chance nutzen. Sie packte ihr Breitschwert mit beiden Händen, wohl wissend, dass sie den Überraschungsmoment nutzen musste, bevor der Sarazene seine überlegene Kraft ausspielen konnte. Aus der Parade heraus vollführte sie eine schnelle Drehung um ihre eigene Achse und schlug zu. Im letzten Augenblick gelang es ihrem Gegner, seinen Säbel zwischen sich und ihr Schwert zu bringen, aber in Robins Hieb lag die ganze Kraft ihrer Drehung. Der Krummsäbel wurde dem Krieger aus der Hand geschlagen und sauste davon, während Robins Schwert durch die Luft schnitt und sich in die Hüfte ihres Gegners bohrte. Der Sarazene taumelte zurück, fiel mit einem gequälten Schrei rücklings ins Wasser. Sofort setzte ihm Robin nach und senkte die Schwertspitze auf seine Kehle.
Aber sie stach nicht zu.
Die Spitze des Breitschwertes ritzte die Haut des Mannes. Ein winziger Blutstropfen quoll hervor und wurde vom Wasser davongespült. Es wäre so leicht gewesen. Sie wusste, wie scharf die Schwertklinge war. Ein einziger schneller Stoß, der nicht einmal nennenswerter Kraft bedurfte, und es war vorbei.
Sie konnte es nicht. Sie sah die Angst in den Augen des Mannes, seinen Schmerz, aber auch den noch immer hell lodernden Hass. Sie wusste, dass der Sarazene sie ohne Gnade und ohne einen Augenblick des Zögerns getötet hätte, wäre er an ihrer Stelle gewesen.
Sie hatte gar keine Wahl. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie ihn einfach töten musste, wollte sie hier lebendig herauskommen. Etwas Dunkles in ihr flüsterte, dass er ohnehin dem Tod geweiht war. Aber da war noch eine andere Stimme. Eine Stimme, die an einen schwer verletzten, leidenden Mann, einen Menschen, in dessen Augen die nackte Todesangst geschrieben stand, gemahnte. Einen Gegner, gewiss, doch einen Gegner, der Schmerzen litt, die sie ihm zugefügt hatte. Sie konnte ihn nicht töten.
Robin hob das Schwert und trat einen halben Schritt zurück. Sie zitterte am ganzen Leib und in ihrem Mund war plötzlich ein bitter-metallischer Geschmack, wie von Blut. Sie ahnte, dass sie möglicherweise einen tödlichen Fehler beging, und dennoch konnte sie nicht anders.
Der Sarazene hingegen zauderte nicht lange. Für die Dauer eines Herzschlags starrte er fassungslos zu ihr hoch, verwirrt, vielleicht auf eine Falle wartend, dann sprang er in die Höhe, warf sich mit einem gewaltigen Satz nach seinem Säbel und kam mit einer Rolle vollends auf die Füße. Die Wunde, die Robin ihm beigebracht hatte, blutete stark und ließ ihn beinahe straucheln, als er sich auf die Beine kämpfte. Humpelnd kam er auf sie zu, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht war entschlossener denn je. Robin wusste, dass sie keine Gnade von ihm zu erwarten hatte.
Und er hatte aus ihrem ersten Zusammenstoß gelernt. Vielleicht hatte er sie für leichte Beute gehalten, aber diesen Fehler beging er kein zweites Mal. Statt ungestüm auf sie einzuschlagen, attackierte er sie mit ebenso großer Schnelligkeit wie Geschick. Er wusste, dass Robin ihm an körperlicher Kraft nicht annähernd gewachsen war, und dieses Wissen machte er sich in seiner Taktik nun zunutze. Schon nach den ersten Hieben, die sie nur mit Mühe und Not parieren konnte, war Robin klar, dass sie diesen Mann kein zweites Mal besiegen würde. Und wenn sie auch die ersten Sekunden des ungleichen Kampfes überlebte, so war dies der tiefen Wunde, die sie dem Mann beigebracht hatte, zuzuschreiben. Aber das würde sie nicht retten. Mochte der Sarazene hier unten ebenfalls sein Leben lassen, aber zuvor würde er sie mit in den Tod reißen.
Schritt für Schritt wich Robin vor dem tobenden Krieger zurück. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um ihr Schwert bei jedem Angriff erneut hochzureißen und seine Hiebe abzuwehren oder ihnen wenigstens so viel Kraft zu nehmen, dass sie ihr Kettenhemd nicht durchdringen konnten. Aber das Schwert schien mit jedem Atemzug schwerer zu werden und die Wucht der Hiebe, die ununterbrochen auf sie niederprasselten, zermürbten sie. Früher oder später würde sein Schwert ihr Kettenhemd durchdringen oder sie an einer ungeschützten Stelle treffen.
Als es so weit war, war sie dennoch überrascht. Sie parierte einen wuchtigen Angriff, als ihre Hände plötzlich nicht mehr die Kraft hatten, ihre eigene Waffe zu halten. Das Schwert wurde ihr aus der Hand geschlagen und flog davon. Die Kraft des Angriffs ließ sie rücklings gegen die Wand prallen und in die Knie brechen. Panik ergriff sie, doch sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Arme über das Gesicht zu reißen, als der Sarazene zum letzten Hieb ausholte. Sie hockte einfach reglos auf den Knien und wartete auf den Tod.
Das helle, reißende Sirren hörte sie kaum. Es war ein Geräusch wie Seide, die zerriss. Plötzlich erstarrte ihr Gegner mitten in der Bewegung. Die tödliche Waffe entglitt seinen Händen. Er hatte keinen Kopf mehr.
Für einen scheinbar endlosen Moment stand der enthauptete Torso vollkommen reglos und aufrecht vor ihr, dann brach er zusammen und hinter ihm wuchs eine zweite Gestalt, ebenfalls in fast schwarzes Blau gekleidet, in die Höhe.
»Sa...lim?«, murmelte Robin ungläubig. »Du? Aber was... wo kommst du denn...?«
»Wenn ich ungelegen komme, gehe ich wieder«, knurrte Salim. Er klang wütend, aber seine Augen waren erfüllt von Sorge. »Wie geht es dir? Bist du verletzt?«
»Nein«, entgegnete sie benommen. »Jedenfalls... nicht schlimm.« Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr erst, als Salim ihr half. Sein Griff war nicht besonders sanft.
»Du hast wohl einen Schlag auf den Kopf bekommen«, sagte er wütend. »Oder wie sonst wäre zu erklären, dass du anscheinend alles vergessen hast, was ich dir beigebracht habe?«
»Was... wovon sprichst du?«, fragte Robin verständnislos.
Diesmal war der Ausdruck auf Salims Gesicht eindeutig Wut. »Verdammt, Robin, was sollte denn das? Wolltest du vielleicht warten, bis er verblutet ist? Du hattest ihn bereits am Boden!«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich dir gefolgt bin«, knurrte Salim. »Ich habe gesehen, wie du in die Frachträume geflüchtet bist, und dachte mir, dass du vielleicht Hilfe brauchen könntest.«
»Und warum hast du dann so lange damit gewartet?«, fragte Robin ärgerlich - auch wenn dieses Gefühl in Wahrheit mehr ihrem absurden Trotz und dem schlechten Gewissen Salim gegenüber entsprang.
»Ich war beschäftigt«, antwortete Salim mit einer Kopfbewegung zur Tür. Robins Blick folgte seiner Geste und sie fuhr leicht zusammen, als sie den reglosen Körper eines weiteren Sarazenen entdeckte, der dort im Wasser lag.
»Oh«, sagte sie. »Das...«
»... spielt jetzt keine Rolle«, unterbrach sie Salim. »Zieh dich aus.«
Robin blinzelte. »Was?«
»Das Kettenhemd!«, antwortete Salim. »Du musst das Kettenhemd ausziehen. Schnell.«
»Aber wieso denn?«, fragte Robin verständnislos.
»Weil es sich schlecht schwimmt mit einem Zentner Eisen am Leib«, antwortete Salim, plötzlich sehr ungeduldig. »Wir müssen das Schiff verlassen.«
»Ist die Schlacht verloren?«, hauchte Robin.
Salim hob die Schultern. »Das steht noch nicht fest. Es wäre gut möglich, dass deine ach so gottesfürchtigen Brüder am Ende doch noch siegen, doch was uns und dieses Schiff angeht, ist sie auf jeden Fall vorbei. Die Sankt Christophorus sinkt bereits. Wir müssen schwimmen.«